Gewissenhaft wie ein unerschrockener Staatsanwalt
Regisseure lassen sich auf Fotos von Dreharbeiten in zwei Kategorien unterteilen. Die Gelassenen geben ihren Mitarbeitern nur einen Fingerzeig, weisen ihnen die Richtung. Die anderen, die Ergriffenen, führen mit vollem Körpereinsatz Regie. Sie spielen ihren Darstellern beschwörend die Szene vor, demonstrieren eindringlich, mit welchen Gesten ihre Figuren zu filmischem Leben erwachen sollen.
Beim Gang durch die Ausstellung, die das „Museo Nazionale del Cinema“ in Turin vor etlichen Jahren Francesco Rosi widmete, merkte man augenblicklich, dass er der zweiten Kategorie angehört. Regie zu führen, versetzt ihn in einen Zustand ernster, strenger Euphorie. Nur selten ertappen ihn die Fotografen in Momenten der Versunkenheit, des Zweifelns. Die von Lorenzo Codelli kuratierte Schau führte vor Augen, wie sehr Rosis Arbeitstemperament dem Erzählduktus der Eindeutigkeit, des Unmissverständlichen entspricht, der ihn zu einem Meister der filmischen Anklageschrift gemacht hat.
Das Museum erwähnte ich bereits gestern und auch den Hauptschauplatz des heutigen Eintrags kam schon vor: Das Filmhaus Nürnberg zeigt ab morgen eine Retrospektive des Regisseurs. Richtig, es ist November; die Tradition, den Monat im Zeichen der italienischen Trikolore zu verbringen, beschäftigt mich an dieser Stelle ja regelmäßig. Weshalb es gerade dieser Monat ist, erfuhr ich ich erst unlängst – dann gastiert die Deutschlandtournee von „Cinema italia!“ in Nürnberg, zu deren Programm in diesem Jahr auch Rosis „Hände über der Stadt“ von 1963 gehört. Aber bevor es losgeht, will ich noch einen Anknüpfungspunkt zu gestern liefern. Lorenzo Codelli, der große Kenner des heimischen Kinos, lebt eigentlich in Udine und ich kann mir vorstellen, dass Esther Kinsky und er sich eine Menge zu erzählen hätten.
In Nürnberg laufen zehn von insgesamt 17 Regiearbeiten Rosis, vier davon in 35mm-Kopien. Zu Eröffnung am Freitagabend führt, das ist eine spannende Wahl, Winfried Günther in sein Werk ein und stellt „I magliari“ (Auf St. Pauli ist der Teufel los, 1959) vor. Der Anfang ist mir unvergesslich, denn da kommen Alberto Sordi und weitere toskanische Arbeitsmigranten am Bahnhof von Hannover an und entdecken auf dem Vorplatz eine in den Asphalt eingefasst Tafel vor, die zeigt, wie viele Kilometer es von dort aus zu den Metropolen Italiens sind. Das ist eine großartige Zeitkapsel, die zurückweist in die offizielle Willkommenskultur, der die Gastarbeiter in den 1950ern begegneten. Inzwischen ist die Tafel längst verschwunden, aber manchmal suche ich noch nach ihr, wenn ich in Hannover umsteigen muss.
Bevor Rosi selbst Regie führte, war er zusammen mit Franco Zeffirelli der wichtigste Assistent Luchino Viscontis. Ich fand es immer kurios, dass sich in deren späteren Karrieren die zwei ästhetischen Grundzüge im Kino ihres Meisters aufspalteten: der Neorealismus und das Opernhafte. Das so säuberlich funktioniert diese Aufteilung natürlich nicht. Zeffirelli bliebt zwar dem sozusagen Kulinarischen treu und scheute den Realismus wie das Weihwasser, aber Rosi hat 1983 einen der schönsten Opernfilme überhaupt gedreht, seine Version von „Carmen“. (Auch dessen Drehorte habe ich mal besucht: in Ronda, wo einige Straßenszenen und vor allem die Stierkampfsequenzen entstanden sind.) Überdies war Rosis Kino die Opulenz nie ganz fremd: Niemand konnte so großartig Prozessionen drehen wie er. (Einen Drehort von „Die Macht und ihr Preis“ fand ich einmal im apulischen Lecce wieder – obwohl der Film ja auf Sizilien spielt.)
Aber trotzdem gilt, dass Rosi den Neorealismus bis in die 1970er energisch am Leben hielt. Die Arbeit mit Realschauplätzen und Laien ist eine Grundierung seines Kino der Recherche (so lautet der Titel der Retrospektive), er suchte die Tatorte auf. Dort arbeitete er gern mit langen Brennweiten, die die Ereignisse aus der Distanz und in ihrer Gänze einfangen, um sich dann blitzschnell auf ein verräterisches Detail zu konzentrieren. Vor jedem Film trug er Berge von Dokumenten, Polizei- und Gerichtsakten sowie Zeugenaussagen als stichhaltige Indizien zusammen, um der Korruption und dem organisierten Verbrechen den Prozess zu machen. Der gelernte Jurist nahm sich die großen unerledigten Fälle des italienischen 20. Jahrhunderts vor, die Ermordung Salvatore Giulianos, die Machenschaften Lucky Lucianos in den USA und der Verbannung in Sizilien (nicht nur im gleichnamigen Film, sondern auch in dem chronisch unterschätzten „Palermo vergessen“ von 1989, wo Philippe Noiret als Hotelbesitzer vor einem Porträt des Mafioso steht und mit unfasslichem Stolz bekräftigt: „Ein großer Mann!“); Rosi untersuchte auch akribisch den vermeintlichen Unfalltod von Enrico Mattei. Als der Journalist, der die wahren Hintergründe aufdecken wollte, unter wiederum mysteriösen Umständen ums Leben kam, nahm der Regisseur kurzerhand selbst dessen Platz vor der Kamera ein. „Der Fall Mattei“ fehlt leider in Nürnberg, kein Wunder, denn seine Aufführung wurde nach 1972 ständig verhindert (in einigen Ländern kam er erst gar nicht heraus), vorgeblich aus Rechtegründen, aber zweifellos vor allem deshalb, weil er der Wahrheit zu nahe kam. Das ist der entscheidende Kniff bei Rosis Paranoia-Kino: dass sie immer gerechtfertigt ist.
Von der Beharrlichkeit, mit der er seine filmischen Ermittlungen vorantrieb, brachten ihn auch Anklagen der Staatsmacht nicht ab. Am Ende war für ihn nicht mehr unbedingt entscheidend, wer der Schuldige ist, sondern was das Verbrechen über die gesellschaftlichen Zustände aussagt. Die noch immer beste Monografie stammt von Michel Ciment und trägt den stimmigen Titel „Le Dossier Rosi“. Die schönste Ausgabe sei freilich die italienische Übersetzung, meinte er, als er sie 2008 zusammen mit dem Regisseur in Turin vorstellte. Die Zwei waren unzertrennlich; Rosi respektierte Journalisten, die gründlich arbeiten.
Ich war mit einer Kollegin ins Filmmuseum gereist, die vom Gespräch beeindruckt gewesen war, das sie im Februar zuvor geführt hatten, als Rosi den Goldenen Ehrenbären erhielt. Ein kleine Auswahl der Arbeitsfotos war schon während der Berlinale zu sehen und Alberto Barbera, der damals das Museo Nazionale leitete, empfahl dringend, die komplette Ausstellung zu besuchen. Zudem liefe auch eine frisch restaurierte Kopie von „Batallion der Verlorenen“ (1970), der noch einmal eine andere Seite Rosis zeigt: ein Drama aus dem Ersten Weltkrieg, ebenso unerbittlich gefilmt wie seine Politthriller (in Nürnberg am 21. 11.). Als besonderen Leckerbissen pries er zudem die Aufführung von „Filumena Marturano“, der Komödie von Rosis neapolitanischem Landsmann Eduardo de Filippo, die er fürs Theater inszeniert hatte. Da hätten nicht nur wir, auch die Norditaliener dringend Untertitel gebraucht, selbst Lorenzo musste zugeben, kaum ein Wort verstanden zu haben. Aber wir alle spürten, dass Rosi auch in der komödiantischen Leichtfüßigkeit seinem Mandat der sozialen Analyse nicht abschwor.
Nach der Buchvorstellung am Mittag hatte uns Rosi noch skeptisch gemustert. Er konnte sich partout nicht vorstellen, dass wir seinetwegen aus Berlin gekommen waren. Doch, doch, versicherte Michel ihm, sie schätzen deine Filme sehr. Vollends überzeugt war er immer noch nicht. Michel war es auch, der uns durch die Ausstellung führte, die sich auf einer Balustrade in der großen Halle des Museums emporschlängelte. Er wurde nicht müde, die italienischen Standfotografen zu loben, die in den 60er und 70er Jahren weltweit zu den Besten ihres Fachs gehörten. Sergio Strizzi, Mario Tursi und ihre Kollegen beherrschten die Kunst, in einem Bild die Dramatik einer Szene zu bündeln und den Betrachter unverzüglich in sie hinein zu ziehen. Sie fingen prächtig den Elan des Regisseurs aus dem Mezzogiorno ein, die Heftigkeit, mit der er sich Rosi seinen Darstellern zuwandte. Verzückt probt er Bewegungsabläufe, reißt sie Schauspieler mit. Es liegt etwas Überschüssiges in seinen emphatisch werbenden Gebärden, als glaubte er, sie noch überzeugen zu müssen. Er stellt keine entspannte Komplizenschaft mit ihnen her, sondern bedrängt sie, ihre Charaktere aus dem Körper zu entwickeln. Das ist in Nürnberg eben auch zu entdecken: großartiges Schauspielkino.




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