...but first, God made me a man!
Bis ich "The Man who laughs" (Der Mann, der lacht) sah, hatte ich noch nie von den Comprachicos gehört. Aber allein die Erwähnung ihres Namens löst Angst und Schrecken aus. Das Ausrufezeichen, das ihm im Zwischentitel hintangestellt wird, lässt keinen Zweifel daran: Wehe, wenn die Kinderkäufer kommen!.
Man sagte ihnen nach, dass sie Kinder deformierten, um sie dann auf Jahrmärkten in ganz Europa zu präsentieren und Profit aus ihrem Leid zu schlagen. Wie es scheint, hat Victor Hugo ihren spanischen Namen 1896 für seinen Roman "L' homme qui rit" erfunden. Und es ist gut möglich, dass diese Plage nur der Folklore angehört. Aber der Horrorfilm hat uns gelehrt, dass Nichtexistenz beileibe kein Grund zur Entwarnung ist.
Paul Lenis kongenial stumme Verfilmung läuft morgen Abend als "Halloween Special" im Rahmen des "Film+Musik Fest" in Bielefeld. Für die mittlerweile 35. Ausgabe (ein drittes Jubiläum dieser Tage, wenn Sie so wollen) hat die Murnau-Gesellschaft das Motto "Unter Verdacht" gewählt, was einen eher losen Zusammenhang zwischen Titeln aus unterschiedlichen Genres herstellt (https://film-musik-fest.de/). Mein ehemaliger Redakteur Daniel Kothenschulte begleitet das Meisterwerk live. Er ist Stammgast des Festivals und kommt bereits heute Abend zum Einsatz, wenn er "Großstadtschmetterling" vertont, den Richard Eichberg mit Anna May Wong gedreht hat. Der ist einer der Höhepunkte des Abstechers, denn die Hollywoodschauspielerin ins europäische Kino unternahm (https://www.epd-film.de/blogs/autorenblogs/2018/tausend-tode-keine-kuesse). Dieser Status eines Karriere-Intermezzo verbindet die deutsch-britische Co-Produktion mit "The Man who laughs" , der während Conrad Veidts erstem, so kurzen wie glorreichen Aufenthalt in Los Angeles entstand. „Women fight over Conrad Veidt“, reimte die Studiowerbung seinerzeit, aber diese Gefechte waren mit dem Tonfilmen vorerst beendet.
Paul Lenis Film leistete 1928 unschätzbare Schrittmacherdienste, um Universal zu einer Schmiede des Horrorfilms werden zu lassen. Zwar war Carl Laemmles Studio einige Jahre zuvor bei "Der Glöckner von Notre Dame" eine erfolgreiche Allianz mit Hugos universalistischer Weltsicht eingegangen. Aber "The Man who laughs" fiel genau in die neuralgische Phase des Übergangs zum Tonfilm und stellte mithin ein heroisches letztes Aufbäumen des Stummfilms dar, der sich noch einmal im Vollbesitz seiner ästhetischen Möglichkeiten befand. (Indes kam er bald darauf auch in einer Movietone-Fassung mit Musik und Geräuscheffekten heraus.) Lenis Regie ist wahnsinnig klug, ebenso hellsichtig wie lakonisch, und überführt die Schattendramaturgie des deutschen Expressionismus' souverän ins Hollywoodkino.
Die Zuschreibung, dies sei ein Horrorfilm, wirft reizvolle Probleme auf. Hugos Vorlage ist recht eigentlich ein Melodram, das sich flink in eine Abenteuergeschichte in der Manier Alexandre Dumas' verwandelt (es findet ein Degenduell statt sowie ein finales Entkommen um Haaresbreite). Der Anstoß der Handlung erinnert tatsächlich sehr an Dumas. Das Gesichts des Sohns eines rebellischen Adligen wird 1690 auf Geheiß von King James durch besagte Comprachicos entstellt, sodass seine Züge ein ewiges Grinsen tragen müssen. Der Junge ist reinen Herzens, er rettet ein Waisenmädchen vor dem Erfrieren und kommt bei dem Philosophen Ursus unter, der eigentlich auch reinen Herzens ist, aber in dem Jungen das Potenzial einer Jahrmarktsattraktion erkennt. Das Dreiergespann führt eine einträchtige, gedeihliche Existenz – die Waise Dea ist und liebt ihren Retter innig ., die allerdings unter argem Vorbehalt steht. Dem entstellten Jungen steht nämlich das väterliche Erbe zu, das augenblicklich jedoch eine verworfene Herzogin verprasst. Der ehemalige Hofnarr des Königs will nun die Gunst von dessen Nachfolgerin Königin Anne erringen und schmiedet finstere Pläne.
Oben genannte Frage der Genrezugehörigkeit beantwortet Leni, indem er die Geschichte wie einen tiefschwarzen Horrorfilm inszeniert. Ich stelle mir allerdings vor, dass diese Anverwandlung enorme Herausforderungen an die musikalische Interpretation bereithält. Alles hat hier einen doppelten Boden, die Figurenzeichnung und -konstellationen stoßen eine Kaskade der Ambivalenzen an. Die Emotionen sind widersprüchlich, die Motive streben in divergierende Richtungen. Die Erbschleicherin schickt Conrad Veidt ein Billet, in dem sie schreibt, die Einzige gewesen zu sein, die bei seinem Auftritt nicht über ihn lachte (aus Mitleid oder Liebe?) und ihn daraufhin verführen will. Diese letztlich vergebliche Sirene ist eine Glanzrolle für Olga Baclanova, die Russian Tigress - eine Besetzung, die, wie ohnehin vieles in Lenis Film, bereits auf "Freaks" von Tod Browning aus dem Jahr 1932 verweist. Mit ihr kommt eine Anzüglichkeit ins Spiel, die die Zensur auf den Plan rief. Der Moment, in dem sie vorgestellt wird, ist besonders komplex. Der schurkische Hofnarr empfängt einen Boten, der die Nachricht von der Existenz des rechtmäßigen Erben überbringt. Um den Brief lesen zu können, lenkt er den Überbringer ab, indem er ihn durchs Schlüsselloch ins Boudoir der Herzogin blicken lässt, die gerade ein Bad nimmt. Schlicht genial, wie Leni hier Voyeurismus, Standesunterschiede, Ranküne und Sinnlichkeit in einer kurzen Montage bündelt.
Überhaupt ist ihm ein Meisterwerk der Vielschichtigkeit gelungen. (Allen Interessierten, die nicht im Großraum Bielefeld weilen, sei die exzellente DVD des deutschen Labels Wicked Vision empfohlen.) Lenis Blick auf Leichtlebigkeit und volkstümliche Vergnügungssucht ist von satirisch geschärfter, mithin entschieden unpuritanischer Großzügigkeit. Aus dem expressionistischen Kino bringt er überdies die Figur des Doppelgängers mit, denn der Hofnarr ist auch physiognomisch als ein böses Double des lachenden Mannes gezeichnet. "All his jokes were cruel" , heißt es in einem Zwischentitel, "and his smile was false". Veidts groteske Maske sollte sich als folgenreich für die Populärkultur erweisen. Die Zeichner der Batman-Comics, darunter Bob Kane, inspirierte ein Standfoto aus "The Man who laughs" zur Figur des Joker, dessen freudloses Lachen bis in die Joaquin-Phoenix-Filme nachhallt. Das ins Gesicht geschnittene Lächeln diente darüber hinaus wohl als Inspiration für den "Black Dahlia" -Mörder; zumindest laut James Ellroys Roman und der Verfilmung von Brian de Palma.
Seine Bestimmung im Film ist melodramatisch; sie hängt zeitweilig zwischen Galgen und Adelspatent. Aber Hugos Universalismus obsiegt: Es ist kein Glück, aber vielleicht doch ein Privileg, ein Ausgestoßener zu sein. Der Moment, in dem sich Veidt sich aus den höfischen Intrigen befreit, besitzt erhabenes Pathos: Ein König mag ihn zu einem Clown gemacht haben und eine Königin zu einem Adligen, aber zuerst hat Gott ihn als Menschen erschaffen. Daniel, ich wünsche gutes Gelingen!




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