...war Amerikas Verlust
J. Arthur Rank, der die wichtigen Fäden im britischen Nachkriegskino zog, war dem Vernehmen nach ein sehr religiöser Mensch. Neben der ohne zweifel aufreibenden Tätigkeit als Chef des nach ihm benannten Konzerns unterrichtete er regelmäßig in der Sonntagsschule. Der schlechte Einfluss, den Filme auf britische Familien ausüben könnte, sorgte den Methodisten sehr.
Das bedeutete nicht, dass seine Produktionen durchweg erbaulich und erhebend waren. Ihm unterlief auch manch anstößiges, ja jugendgefährdendes Werk. Ein Geschäftsmann braucht ein großes Herz. Als Edward Dmytryk vor der Verfolgung durch die HUAC, den Kongressausschuss für unamerikanische Umtriebe, zeitweilig nach England floh, fragte der Produzent ihn nicht, ob er Kommunist sein. Vielmehr wollte er wissen, ob der Regisseur an Gott glaube. Nach seinem "Ja" bekam er grünes Licht für gleich zwei Projekte, bevor er in die USA zurückkehrte und vor dem Untersuchungsausschuss Namen nannte. Der zweite, "Obsession", wird uns später noch ausführlicher beschäftigen, den er ist ein abgründiger Krimi, den man nur einem moralisch gefestigten Publikum empfehlen kann.
Dmytryk war einer von mehreren US-Regisseuren, die in England willkommen waren. Aber war das dortige Kino auf ihre Expertise in Sachen Noir tatsächlich angewiesen? Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Der US-Einfluss auf diese Kinematografie war enorm: Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden angeblich 80 % der Kinovorführungen mit Hollywoodfilmen bestritten. Filmemacher hatten also Ikonografie und Konventionen des Gangsterfilms gleichsam geerbt, entwickelten daraus aber durchaus eigene Spielarten. Diese sind nicht ganz so bekannt, weshalb wir mit dem US-Vokabular besser vertraut als mit dem einschlägigen britischen Idiom. Das hübsche Synonym "Spiv" (für Ganove, Gauner oder Schieber) musste ich erst einmal nachschlagen. Umso dankbarer darf man für Ehsan Koshbakhts kuratorisches Prinzip sein, nur heimische Gegenwartsstoffe in sein Locarno-Programm aufzunehmen.
Was für ein vitaler Schmelztiegel die Hauptstadt sein konnte, führt zum Beispiel »Pool of London« von Basil Dearden vor, der dem britischen Nachkriegskino zudem seinen ersten schwarzen Hauptdarsteller bescherte, den in Bermuda geborenen Earl Cameron. Die Szenerien der heimischen Noirs unterschieden sich entscheidendend von den amerikanischen, denn sie tragen sich oft in den Trümmerlandschaften zu, die der Blitzkrieg hinterlassen hat. Die Rationierung von Lebensmitteln, Brenn- und Treibstoffen sind ein durchgehendes Motiv. Die Klassengesellschaft gebiert ganz andere Konflikte, wie "They made me a Fugitive" vorführt. Die Enge der Wohnverhältnisse zeigt "It always rains on Sunday" mit klaustrophobem Nachdruck. Robert Hamers Film beweist auch eine eigene Innovationskraft: Seine Rücklenden werden nicht mit Überblendungen oder verschwimmenden Konturen eingeführt, sondern einem simplen, kühnen Schnitt. (Üblicherweise schreibt schrieb man diese Neuerung dem Rommel-Film »Der Wüstenfuchs« von Henry Hathaway und Nunnally Johnson zu, der einige Jahre später entstand.) Auch die Protagonisten sind aus anderem Holz geschnitzt, etwa der blutjunge Spiv Pinkie in »Brighton Rock«, wo die Boulting-Brüder den ersten "katholischen" Roman von Graham Greene adaptieren; Richard Attenboroughs Augen funkelten nie wieder so kalt wie hier. Mit Stanley Baker findet das britische Kino eine originäre Verkörperung von Virilität, in der Wut und Aggression aus der Furcht vor der eigenen Verletzbarkeit erwachsen. In »Hell is a city« (den Alexander Payne, der in Locarno einen Preis bekam, als die große Entdeckung des Festivals rühmte) spielt er eine seiner besten Rollen als ruppiger, erfahrener Copper, der einen flüchtigen Verbrecher dingfest machen soll. Wie Polizist und Urbanität eine untrennbare Symbiose eingehen, führt sein nächtlicher, ruheloser Spaziergang durch Manchester am Schluss vor. Der Ehekonflikt in Val Guests Film ist demgegenüber schockierend veraltet.
Der Brit Noir bildet stimmig den Gefühlsdruck der Epoche ab, indem er die Innenseiten der Gesellschaft in bedrängendes Schwarzweiß taucht. Das Publikum ging mit, es wollte nicht nur dem Alltag eskapistisch enthoben werden, sondern dessen Ambivalenz auf der Leinwand wiederfinden. »Brighton Roc«, »The made me a Fugitive« und »It always rains on Sunday« zählten zu den großen Kassenerfolgen der späten 40er Jahre. Sie waren keine Randphänomene, sondern gehörten durchaus dem "offiziellen" Kino an, das von einer forschen Zurückhaltung geprägt ist.. Dem entspricht, dass sie auch mit dem Blick auf den Export in die USA produziert wurden. »Brighton Rock« kam dort unter dem Titel »Young Scarface« heraus.
Die expatriierten Filmemacher, die vor der Black List flohen, fanden in Großbritannien ein ganz eigentümliches Erzählterrain vor. Die Arbeiten, die in Locarno liefen, sind geprägt von einer bemerkenswerten, atemlosen Dringlichkeit. »Night and the City« von Jules Dassin spielt (abgesehen von einigen lässlichen Ellipsen) nur in einer einzigen Nacht, in der sich das Schicksal des Spiv Harry Fabian (Richard Widmark) entscheidet. Er ist ein gehetzter Ganove und Seelenverkäufer, der allerorten nur Gelegenheiten zur schnellen Bereicherung erblickt und seine spirituelle Leere mit namenlosem Ehrgeiz füllt. In diesem eminent kosmopolitischen London, wo das Nachtleben und Ringkampf-Geschäft federführend von griechischen Einwanderern beherrscht wird, verfängt er sich wie eine Spinne im eigenen Netz. Von amerikanischen Spezialisten wird er gern dem US-Noir zugeschlagen (Produktion, Besetzung und Team gehen weitgehend auf das Konto von 20th Century Fox), aber er hätte nirgendwo anders als im vom Krieg vernarbten London spielen können. Dassin fängt eine faszinierende Urbanität der kurzen Wege und verschworenen Milieus ein. Gene Tierney ist ziemlich unterbeschäftigt, der eigentliche weibliche Star ist Googie Withers, die alle Facetten von Gier, Begehren und Manipulation durch dekliniert. »Hell Drivers« spielt in einem eher ländlichen, sehr spezifischen Milieu, das Cy Endfield mit ähnlich rastloser Neugier schildert. Stanley Baker heuert in einem Fuhrunternehmen an, wo ein erbitterter Konkurrenzdruck herrscht. Die Trucker fahren gegen die Stoppuhr und gehen im Zweifelsfalle über Leichen, um am Ende der Woche die Prämie für die meisten Fuhren zu kassieren. Große Fernfahrerfilme gibt es im Hollywoodkino, in Frankreich und der BRD, aber so rabiat wie dieser ist keiner. Für dieses zupackend physische Genrestück spendierte Rank sogar das teure VistaVision-Format. Eine fulminante Visitenkarte für Endfield, der im Gegensatz zu Dassin im englischen Exil blieb.
Auch Joseph Losey blieb ein andauernd faszinierter Betrachter seiner neuen Heimat. In »Time without Pity«, geschrieben von dem Black-List-Opfer Ben Barzman, geht es ebenfalls um ein Wettrennen mit der Zeit. Uhren sind allgegenwärtig, wenn Michael Redgrave als abwesender, alkoholsüchtiger Vater im letzten Moment seinen Sohn vor dem Strang retten will. Was ein Verbrechen über die Pathologie einer Gesellschaft aussagt, beschäftigt in anderer Weise auch Dmytryk in „Obsession“. Der war für mich die große, kuriose Trouvaille unter den Beispielen, mit denen ich daheim die Retro nachspielte. Kein Film eines US-Regisseurs versenkt sich so tief in die sozialen Gepflogenheiten und Konventionen des fremden Landes. (Ohnehin eine ziemlich kosmopolitische Angelegenheit, der Drehbuchautor Alec Coppel stammt aus Australien und die gewitzte Musik hat Nino Rota komponiert.) Das fängt schon mit der britischen Obsession mit dem perfekten Mord an, den der ausnahmsweise erfreulich zurückgenommene Robert an dem Mörder seiner Frau begehen will. Auch das Zeitmaß ist ein ganz anderes, der Suspense erstreckt sich über Monate, bleibt aber stets dringlich. Kein Amerikaner würde ein Verbrechen wohl so planvoll und geduldig in Angriff nehmen wie dieser zivilisierte Psychiater: Tag für Tag transportiert er in einer Wärmflasche (very cosy, very british) Säure zu dem Trümmergefängnis des aus den USA stammenden Liebhabers, bis die Badewanne voll genug ist, um dessen Leichnam spurlos verschwinden zu lassen. Das ist halb Nervenkrieg, halb comedy of manners. Dass Newton von seinem Häftling das uramerikanische „pal“ übernimmt, wird im Katz&Maus-Spiel zu einer verhängnisvollen Pointe. Dmytryk und Co. sezieren eine Mentalität, die sich auf träge imperiale Traditionen beruft; ein Meisterwerk der Niedertracht. Die Behauptung, der Regisseur habe als erster die low key-Fotografie nach England importiert, kann ich indes nicht unterschreiben. British Noir war schon davor dunkel genug.
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