Bildungsauftrag erfüllt
In den meisten französischen Filmgeschichten kommt Alain Jessua nicht vor. Dabei verlief seine Karriere keineswegs im Geheimen. Vielmehr verbarg sie sich in aller Öffentlichkeit. Nachdem seine ersten Regiearbeiten in den 1960er Jahren mehrfach ausgezeichnet worden waren, drehte er eine Reihe von Kriminalfilmen, die zuweilen große Kassenerfolge waren. Er arbeitete mit großen Stars wie Annie Girardot, Alain Delon, Jean Yanne. Patrick Dewaere und Nathalie Baye.
Es ist mithin nicht unbedingt seine Schuld, wenn der Historiker René Predal ihn nur mit einer Zeile erwähnt und Jean-Michel Frodon nimmt erst gar nicht Notiz von seinem Werk. Obwohl Jessuas Filme ästhetischen Eigensinn, eine persönliche Handschrift und sogar Weltsicht aufweisen, wurde ihm von der Kritik kaum der wohlige Status des Auteur zugebilligt: eine Randfigur des französischen Kinos, aber eben mitten im Mainstream. Also der ideale Kandidat, um vom Filmkollektiv Frankfurt wiederentdeckt und rehabilitiert zu werden. Gary Vanisian führt ab heute Abend und bis Pfingstsonntag in Wien in Jessuas filmischen Kosmos ein. Die Reihe, die ihren Titel seinem Langfilmdebüt „Das umgekehrte Leben“ verdankt, läuft im Österreichischen Filmmuseum noch bis zum Monatsende. Eventuell komme ich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf diesen faszinierenden Filmemacher zurück.
Ich lernte seinem Namen kennen, als das ZDF ihm im Sommer 1985 eine kleine Werkschau widmete. Die Einstellung aus „Armaguedon“ (Die letzte Warnung/Der Erpresser), in der Delon einer Selbstmörderin die rettende Hand entgegenstreckt, zierte die Vorderseite der Broschüre „Der Spielfilm im ZDF“, welche die Redaktion zweimal im Jahr herausbrachte. Bevor ich vor einigen Tagen für den „falter“ einen Einführungstext zur Jessua-Retro schrieb, kramte ich sie aus dem Schrank meines Jugendzimmers in Herford hervor. Sie hat es in sich. Nicht nur die Texte, die der Redakteur Alexander Marinoff über den Franzosen schrieb, beeindruckten mich. Das gesamte Programm war erstaunlich. In der zweiten Jahreshälfte lief eine kleine Reihe über Kino in Venezuela und eine größere über Filme von Frauen, in der Arbeiten von Maria Luisa Bemberg, Marion Hänsel, Ann Hui, Alexandra von Grote und anderen zu sehen waren. Mit Filmzyklen über Godzilla und Bud Spencer kam auch das Populärkino zu seinem Recht. Aber vor allem faszinierte mich, wie viele Erstaufführungen (u.a. von Jacques Dollon, René Feret, John Sayles sowie Alfred Hitchcock) der Sender ausstrahlte. Einige fanden danach den Weg in die Kinos, hinter anderen verbargen sich Fernsehproduktionen aus den USA (was ich schon damals geargwöhnt hatte). Die Programmsparten „Der besondere Film“ und „Mitternachtsfilme“ waren feste Größen, auf deren kuratorische Phantasie meist Verlass war. So entdeckten mein Schulfreund Rainer und ich beispielsweise Mauro Bologninis Meisterwerk „Das Erbe der Ferramonti“, der hier ebenfalls um ersten Mal in der BRD gezeigt wurde, Das Spektrum an Weltkino, das der Sender vorstellte, war enorm.
Gestern Abend kämmte ich den Schrank nach weiteren Programmheften durch. Es herrschte ein leichtes Durcheinander, da die Broschüren das gleiche Format hatten wie die Zeitschrift „Wide Angle“, die ich in den 80ern mit Begeisterung studierte. Es traten ungeheure Schätze hervor. Dank der ZDF-Filmredaktion erfuhr ich, dass italienische Sandalenfilme gar nicht so dumm waren. Dank ihr begegnete ich King Hus Schwertkämpferfilmen und Yoji Yamadas Melos zum ersten Mal. Mein Freund Heiko und ich saßen gebannt vor dem Fernseher, als eine ausführliche Melville-Werkschau lief. Wenn ich mich damals schon dafür interessiert hätte, wäre ich früh mit dem türkischen, mexikanischen oder philippinischen Gegenwartskino (keineswegs nur Lino Brocka!) oder dem historischen jiddischen und ägyptischen Kino vertraut geworden.
Beim Durchblättern stieß ich auf inzwischen entlegene Regisseursnamen wie René van Nie, Mils Malmros, Wojciech Marczeweksi, Pirjo Honkasalo & Pekka Lehto oder Sun Sha. Solche Entdeckungen macht man nicht, wenn man nur die Festivals in Berlin oder Cannes besuchte. Der Reise-Etat der Redaktion muss erklecklich gewesen sein. Dieter Krusche, Jürgen Labenski und Co, kamen herum und schauten genau hin. Oft wurden die Filmreihen von filmkundlichen Dokumentationen flankiert, die von Kapazitäten wie Katja Raganelli, Hans-Peter Kochenrath oder auch Michel Ciment gedreht wurden. Viele haben meinen Blick auf das Kino nachhaltig geprägt. Üblicherweise wurde immer die WDR-Filmredaktion als eine trotzige Bastion der Cinéphilie gefeiert. Ihr internationaler Ruf war natürlich gerechtfertigt. Aber die Programmbroschüren, die ich zwischen 1979 und 1985 sammelte, zeigen, dass das ZDF einmal das MUBI seiner Zeit gewesen war.
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