Keine Einwände – Zur Debatte um Seidls »Sparta«

»Sparta« (2022). © Neue Visionen Filmverleih

»Sparta« (2022). © Neue Visionen Filmverleih

Ulrich Seidls »Sparta« greift ein Tabuthema auf: Pädophilie. Ein Artikel im »Spiegel«, verfasst ohne Kenntnis des Films und punktgenau erschienen kurz vor der Premiere, sollte einen Skandal anstacheln. Dazu kam es aber dann doch nicht

Mit dem deutschen Kinostart des Pädophilie-Dramas »Sparta« rücken auch Erinnerungen an die Kontroverse um die Entstehung des Films ins Rampenlicht, die im Herbst letzten Jahres die Medien beschäftigte. Es begann mit einem mehrseitigen Artikel im »Spiegel« vom 2. September, in dem schwerwiegende Vorwürfe zu den Dreharbeiten von »Sparta« in Rumänien erhoben wurden. Eltern seien über sexuelle Inhalte im Unklaren gelassen, das Wohlbefinden der Kinderdarsteller sei vernachlässigt worden – die Vorwürfe sorgten dann wochenlang für Schlagzeilen.

Veröffentlicht wurde der Text just eine Woche vor der geplanten Weltpremiere beim Filmfest Toronto. Nachdem das US-amerikanische Branchenblatt »Variety« auf die Geschichte aufmerksam wurde und über den Fall berichtete, entfernte das Festival den Titel kurzfristig aus dem Programm. Nur aufgrund des Artikels, ohne die Anschuldigungen zu prüfen. Uraufgeführt wurde »Sparta« kurz darauf auf dem Festival im spanischen San Sebastián, das trotz des medialen Drucks an der Einladung in den Wettbewerb festhielt. Seidl selbst entschied sich kurzfristig, nicht anzureisen, stattdessen schickte er ein Statement. Er wolle die Premiere nicht mit seiner Anwesenheit überschatten und den Film für sich selbst sprechen lassen. Er sei im Moment in Rumänien, um den Eltern und Kindern »Sparta« zu zeigen und mit ihnen zu sprechen. Nach diesem ersten Screening in San Sebastián war dann zumindest klar, dass der fertige Film selbst kaum zur Empörung taugt und das, was auf der Leinwand zu sehen ist, kaum dazu nutzt, Auskunft über die Umstände der Entstehung zu geben.

»Paradies: Liebe« (2012). © Neue Visionen Filmverleih

Kontrovers waren die Filme des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl schon immer. Ob das intime Verhältnis von Menschen zu ihren Haustieren in »Tierische Liebe«, die merkwürdigen Freizeitaktivitäten in »Im Keller« oder der Sextourismus weißer Frauen in Afrika in »Paradies: Liebe«. Seidls Filme provozieren. Sich beim Blick in diese Welten unwohl zu fühlen, ist immer auch Teil der Faszination. Dafür wird er seit Jahren bewundert und angefeindet. Konsequenzen gab es dagegen bislang selten. Lediglich zwei Männer, die in einer Szene des Dokumentarfilms »Im Keller« mit Nazi-Devotionalien zu sehen waren, entpuppten sich als ÖVP-Lokalpolitiker und mussten nach Bekanntwerden von ihren Ämtern zurücktreten. 

Mit »Sparta« drohte nun auch dem Regisseur selbst realer Widerstand. Das Filmfest Hamburg, wo Ulrich Seidl im Oktober den Douglas-Sirk-Preis erhalten sollte, hatte bereits bei Erscheinen der Vorwürfe im September die Anerkennung schnell zurückgezogen, aus Angst, damit das eigene Renommee zu beschädigen. Der Film wurde, nachdem San Sebastián sich klar gegen eine Vorverurteilung positioniert hatte, doch noch gezeigt.

In der österreichischen Filmbranche sorgte der Fall für ein gehöriges Beben. Ulrich Seidl ist schließlich einer der international bekanntesten Regisseure des Landes. Der Verband Filmregie Österreich kritisierte »zahlreiche übereilte und unsachliche öffentliche Reaktionen«, die einer Vorverurteilung Vorschub geleistet hätten. Der Verband forderte eine »gründliche und unvoreingenommene Prüfung des Sachverhalts«.

Die Viennale zeigte den Film schließlich Ende Oktober als Österreichpremiere, und Seidl ging nach langem Schweigen in die Offensive, gab führenden Printmedien in Österreich ausführliche Interviews, in denen er sich gegen eine »groteske Verdrehung« in der Berichterstattung verwahrte. Und bekräftigte, dass er mit den Eltern in Rumänien gesprochen und ihnen den Film gezeigt habe. Nach den Dreharbeiten habe er lange keinen Kontakt zu ihnen gehabt. Dieses Vertrauensverhältnis vernachlässigt zu haben, sei ein »massiver Fehler« gewesen. »Jetzt wo sie den Film gesehen haben, werfen sie mir nichts mehr vor.« Gegen keine einzige Szene habe es Einwände gegeben.

Im Rückblick fasste das Autorentrio des »Spiegel« die Reaktionen Ende Dezember lapidar zusammen: »Ulrich Seidl hat die Familien nach der Veröffentlichung der Recherche in Rumänien besucht und ihnen den Film gezeigt. In Gesprächen mit dem SPIEGEL zeigten sich die Familien versöhnlich. Wir sehen es als Erfolg der Recherche, dass er diese Reise angetreten hat.«

Also alles erledigt? Ein Gutes hatte der Fall dennoch: Er stieß eine längst überfällige Auseinandersetzung an über altersgerechte Drehbedingungen und den Umgang mit Schutzbedürftigen an Filmsets. Dabei geht es nicht nur um rechtliche Fragen wie die Einhaltung klar definierter Arbeitszeiten, sondern auch darum, wie man problematische Szenen so inszeniert, dass Kinder keinen Schaden nehmen. Und am Ende, was im Namen der Kunstfreiheit vertretbar ist. Inwieweit dies zu einer Sensibilisierung im Verhalten, auch jenseits des Justiziablen, führt, bleibt abzuwarten.

Die Aufmerksamkeit um »Sparta« korres­pondierte mit zwei weiteren Themen, die Österreichs Filmbranche derzeit stark beschäftigen. Zum Einen das Bekanntwerden mehrerer #MeToo-Fälle, sowie der Skandal um den Schauspieler Florian Teichtmeister (Marie Kreutzers »Corsage«), auf dessen Computer Zehntausende kinderpornografische Foto- und Videodateien gefunden wurden. Wie groß seitdem der Gesprächs- und Handlungsbedarf ist, wurde auch im April bei einer Podiumsdiskussion auf der Diagonale, dem Festival des österreichischen Films, deutlich. Einiges hat sich bereits geändert. Das Österreichische Filminstitut und der Filmfonds Wien etwa passten im vergangenen Jahr die Förderrichtlinien an einen »Code of Ethics« an, der konkrete Maßnahmen gegen sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch vorsieht. Und eine neu gegründete Arbeitsgruppe entwickelt derzeit ein Kinderschutzkonzept. 

Die Debatte um Seidls Film selbst ist seitdem verebbt. Anfang des Jahres wurde der 70-Jährige vom Filmarchiv in Wien mit einer Retrospektive geehrt, der Regisseur war zu mehreren Veranstaltungen anwesend. In diesem Rahmen lief auch erstmals das 203 Minuten lange Diptychon »Böse Spiele – Rimini Sparta«, in dem die beiden Bruderdramen »Sparta« und der Anfang 2022 auf der Berlinale gezeigte »Rimini« parallel geschnitten sind.

Anfang Mai startet »Sparta« regulär in deutschen und österreichischen Kinos. Damit kann sich das Publikum auch abseits der Festivals ein eigenes Bild machen. Die Reaktionen sind schwer absehbar. Wie wird sich die Auseinandersetzung auf die Besucherzahlen auswirken? Wird die Debatte erneut hochkochen? Und wird es Seidl in Zukunft schwerer haben, für seine Filme ­Förderungen zu bekommen? Eine Geschichte mit offenem Ende.

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