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Christian Petzold und Christoph Hochhäusler analysieren eine Szene aus »Polizeiruf 110«
Petzold und Hochhäusler über den Stills des Graf-Films

»Er sollte tot...« wurde 2006 gesendet. Das Gespräch entstand 2009 als Voice-over für den Kurzfilm Für die Dauer einer Zigarettenlänge, Teil des DVD-Projekts »Früchte des Vertrauens« von Alexander Kluge.

Christian Petzold: In einem Münchner Vorort ist ein Rentner umgebracht worden. Eben haben wir die Festnahme einer jungen Frau gesehen. Maria ist eine Prostituierte, die über Kontaktanzeigen alte, einsame Männer aufsucht, ein wenig lieb zu ihnen ist, manchmal sogar mit ihnen schläft – und sie um ihr Geld erleichtert. Jetzt ist einer dieser Männer tot, und sie ist die Hauptverdächtige, weil er sie als Universalerbin eingesetzt hat.

Christoph Hochhäusler:  Die Szene, die hier anfängt, ist so eine Art Fenster oder Pforte.

Petzold:  Es ist ein Verhörraum, aber er hat etwas von einem Seminar. Wir sehen die Hauptkommissarin Obermaier, Oberkommissar Tauber, eine Protokollantin. Die drei erwarten etwas. Sie blicken in eine Richtung, man hört im Off, wie jemand hereingeführt wird – das ist dieselbe Einstellung, die Kamera fährt zurück, raumgreifend, kein Zoom.

Hochhäusler:  Wir sehen, wie ein Beamter die Verdächtige an den Tisch setzt, sie wirkt eingesunken, passiv. Wie wird Maria sich verhalten? Wie kann man aus ihr das schöpfen, was wir brauchen? Wir brauchen ja eine Geschichte, wir erwarten sie mit den Kommissaren, eine Geschichte, die Sinn macht.  

Petzold:  Es ist 20:15 Uhr, sonntags, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ab 20:15 wird unsere Welt irritiert, aber auch erzählt und wieder in Ordnung gebracht werden.

Hochhäusler:  Die zwei Kommissare sitzen ein bisschen abseits. Die Tür geht auf, und ein älterer Kommissar mit Hut kommt herein, Kruppke. Die Hierarchie ist ein bisschen unklar. Wer ist zuständig? Wem gehört der Fall, wem die Geschichte?

Petzold:  In der ersten Einstellung hat eine aufwendige Kameraoperation den Raum eröffnet. Der Gegenschuss ist merkwürdig flach. Kruppkes Auftritt ist denkbar einfach. Mit ihm ist das Personal komplett; sein Auftritt definiert die zwei Blick- und Handlungsachsen. Die erste verbindet Kruppke mit den »Geschworenen«, Obermaier, Tauber, der Protokollantin, die zweite Achse besteht zwischen Kruppke und der Beschuldigten. Es ist Sommer, überall sind Ventilatoren, Marias Haare bewegen sich immerzu. Dadurch ist sie eigentlich zu schön, um verhört zu werden. Und das ist etwas, was Kruppke bestärkt... Er will sie »knacken«. Maria ist nicht nur jemand, der schon so gut wie verurteilt ist, sondern: »Da ist noch etwas in ihr, da muss ich noch hin.«

Hochhäusler: Die einzige Sprache, die der Beschuldigten zur Verfügung steht in dieser Szene... das ist ihr Körper. Sie fängt ganz plötzlich an, sich mitzuteilen. Es ist eine Art Anfall, ein unkontrollierbares Zittern, in dem die Wahrheit aufgehoben ist.

Petzold: Ganz nackt ist sie, kein Ring, kein Schmuck. Alle zehn Finger liegen auf der Tischplatte. Man denkt bei Verhören immer an Pokerpartien, an versteckte Trümpfe. Dieses Bild heißt: Alles liegt auf dem Tisch, und nichts weiß man. Petzold: Aber wer schaut hier? Bei diesem Ransprung, das ist eine großartige Einstellung, aber es ist so, als ob wir das sähen.

Hochhäusler: Es ist der Erzähler.

Petzold: Ja, es ist der Erzähler. Alles andere folgt im Grunde der klassischen Grammatik, nimmt die verschiedenen Perspektiven der Anwesenden ein, aber in dieser Großaufnahme auf die Hände macht sich der Erzähler nicht gemein.

Hochhäusler: Der Erzähler, das zeigt sich immer wieder, ist eigensinnig. Jede Person hat sozusagen einen eigenen Geschichtskreis, und diese Kreise geraten in Konkurrenz. Es geht ja um Deutungshoheit, am Schluss soll eine Geschichte stehen. Aber – und das ist etwas, was Dominik Graf ausmacht – der Erzähler macht klar: Es könnte auch eine andere Geschichte geben, es gibt keine einsame Wahrheit, nur eine, die man sich erarbeitet.

Petzold: Überhaupt beginnt jetzt Vereinzelung, die Auflösung vereinzelt die Figuren. Maria ist alleine, obwohl Kruppke im Bild sein müsste, der Schauspieler muss für die Kamera einen Schritt zurückgetreten sein. Kruppke ist alleine. Tauber auch – aber er sieht zu Maria.

Hochhäusler: Er ist skeptisch. Er schaut zu seiner Kollegin, die neben ihm ist, auch sie in ihrer eigenen Einstellung. Die beiden merken, Kruppke ist befangen.

Petzold: Maria ist auf der Tierfarm ihrer lesbischen Freundin festgenommen worden. Das Einzige, was wir wissen ist, dass sie als Erbin eingesetzt worden ist von dem Opfer. Aber für Kruppke ist sie die Täterin. Und jetzt kommen wieder Hände, Hände und Zigaretten. »Maria Magdalena« macht zum ersten Mal etwas, was vielleicht an ihre Prostituiertenvergangenheit erinnert: Sie will rauchen.

Hochhäusler: Das Kino liebt Zigaretten, aus gutem Grund. Die Kamera ist auf das Sichtbare angewiesen. Etwas, was innerlich ist, soll äußerlich werden. Und indem sich der Tabak in Rauch auflöst, erleben wir die Zeit selbst.

Petzold: Das ist ein wichtiger Moment: Das Feuer muss Kruppke geben. Er kommt wieder ins Bild und nimmt Verbindung auf. Er zeigt das Testament, in dem steht, dass Maria die Alleinerbin ist, und sagt: »Unsere junge Frau ist Witwe, die hat schon mal geheiratet, und der ist auch tot, und da hat sie schon mal alles geerbt.« Jetzt beginnt er, sie fertigzumachen.

Hochhäusler:  Und jetzt sehen wir, warum er zu ihr kommt: die Hand. Er greift ihr in den Nacken. Er wird übergriffig, die Hand bewegt sich, massierend.

Petzold: Schockierend ist, dass sie nicht darauf reagiert. Als ob sie es gewohnt ist, dass diese alten Männer sie dauernd berühren. 

Hochhäusler: Und so wie Dominik das erzählt, ist das eine Kralle; nicht weil die Hand hässlich wäre, sondern weil Kruppkes Hand nicht registriert, wen sie greift. Das ist fast ein Vampirbild.

Petzold:  Hinten die Kralle, vorne die Augen. Und jetzt holt Kruppke sich bei seinen Geschworenen die Bestätigung ab, dass er doch alles richtig macht.

Hochhäusler: Was eigentlich nur heißt, dass er weiß, er ist zu weit gegangen. Die Zigarette zeigt uns, wie lange die Szene gedauert hat.

Petzold: Fünf Minuten.

Hochhäusler: Die Asche ist der Beweis.

Petzold: Maria hat ihren Anwalt verlangt. Das tut sie erst, als Kruppke übergriffig wird – weil er macht, was alle Männer mit ihr gemacht haben.

Hochhäusler: Es braucht dann einen Versehrten, um ihr diese Geschichte zu entlocken.

Petzold: Es muss jemanden geben, der sie sexuell nicht begehrt. Der eine Arm des Kommissars, den der tatsächlich unversehrte Edgar Selge spielt, sagt natürlich: Der ist impotent.

Hochhäusler: Die Asche fällt aufs Papier.

Petzold: Das gefällt mir bei Dominik immer: diese Sachen, die gleichzeitig stattfinden... Dass die Asche auf das Testament fällt und weggepustet wird... Ein Aschenbecher wird ins Bild gestellt.

Hochhäusler: Es ist nicht nur, dass er sich dafür Zeit nimmt, sondern auch, wie er es macht.

Petzold: Aus einer Einstellung werden zwei, und in der dritten pustet er; es geht nur um Asche, und das ist ein Reichtum, ein Alltagsreichtum bei Dominik Graf.

Hochhäusler: Aber die Asche symbolisiert natürlich auch das gescheiterte Verhör, wenn man so will, die Dauer. Übrig bleibt nur Staub.

Petzold: Jetzt bläst er die Asche weg, wir kommen zurück in die Totale, wo fast alle zu sehen sind…

Hochhäusler: Also mit diesem Blasen gehen wir in die Totale, das ist wirklich toll.

Petzold: Und da werden »Vater« und »Sohn«, Kruppke und Tauber, ein letztes Mal in Beziehung gebracht. Er geht aus dem Bild, und das ist wunderbar: die Einstellung, die sagt...

Hochhäusler: Es ist jetzt deine Erzählung.

Christian Petzold und  Christoph Hochhäusler haben mit Dominik Graf den Episodenfilm Dreileben gedreht.

Die geliebten Schwestern startet am 31. Juli

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