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»Le monde après nous« (2021). © Les idiots, 21 Juin Cinéma

»Le monde après nous« (2021). © Les idiots, 21 Juin Cinéma

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit, auch der familiären, war das dominierende Thema im Panorama

Schmerzhafte Aufarbeitung einer verdrängten Vergangenheit: Das zog sich wie ein roter Faden durch viele der 19 Filme des diesjährigen Panorama-Programms. Es war auch Thema im Genrefilm Censor, dem Langfilmdebüt der britischen Regisseurin Prano Bailey-Bond. Die Geschichte spielt in den frühen 80ern, der hohen Zeit der »Video Nasties«: Die Protagonistin ist als Mitarbeiterin der Zensurbehörde mit der Prüfung von Filmen beauftragt. Was in einem realistischen Setting beginnt, bewegt sich in die Welten der Filme hinein, als Enid von Filmbildern an das Verschwinden ihrer Schwester erinnert wird. Enids professionelle Distanz schwindet, schließlich findet sie sich als Darstellerin in einem Film wieder. 

Längst in einer Parallelwelt bewegt sich der Protagonist von »Ted K.« Die stetige Radikalisierung des als Unabomber bekannt gewordenen Mathematikers Ted Kaczynski (eindringlich verkörpert von Sharlto Copley) entfaltet sich als Kammerspiel; über weite Strecken ist der Protagonist allein in seiner selbst gezimmerten Hütte im Wald, wo er 25 Jahre lebte und Tagebücher und Pamphlete verfasste. Der Film von Tony Stone ergäbe möglicherweise ein schönes Doppel mit dem neuen Film von Anne Zohra Berrached (»24 Wochen«). In »Die Welt wird eine andere sein« (Copilot) markiert für die junge Protagonistin die Beziehung zu einem Mann nur scheinbar die Ablösung vom Elternhaus. Auf welches weltpolitische Ereignis das Ganze hinsteuert, deutet der englische Titel an.

Eine der wenigen liebevollen Familien im Programm zeigte »Le monde après nous« von Louda Ben Salah-Cazanes. Immer wieder unterstützen die Eltern ihren Sohn bei dessen Versuchen, sich als Schriftsteller zu etablieren. Aber hat Labidi wirklich Talent? Inspiriert oder behindert ihn seine neue Beziehung zu der Studentin Elisa? Ist die Autofiktion, die er daraus entwickelt, Kunst? Kunst ist jedenfalls die leichtfüßige Erzählweise, die trotzdem Raum fürs Dramatische und Abgründige lässt.

Vorherrschend war allerdings das Konzept der Familie als einer Zwangsgemeinschaft, aus der sich zu lösen schwerfällt. In »North by Current« kehrt der Filmemacher Angelo Madsen Minax zu seiner Familie ins ländliche Amerika zurück. Ist der Tod seiner Nichte wirklich ein Fall von plötzlichem Kindstod oder haben wir es mit einem Verbrechen zu tun? Anhand von home movies und Dokumenten wird eine schwierige Familiengeschichte seziert, in deren Mittelpunkt zwar die problembeladene Schwester steht, die aber bis hin zur sexuellen Identität des Filmemachers reicht. »Ich denke, die meisten Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens damit, einen Abstand zu schaffen zwischen sich und dem, wo sie herkommen, vor allem ihren Müttern« – ein Resümee, das nicht nur auf diesen Film zutrifft. 

In »Miguel’s War« bekennt der Protagonist gegenüber der Filmemacherin Eliane Raheb, er bereue seine Einwilligung zu diesem Filmprojekt: zu schmerzhaft seien die Erinnerungen an die Beziehung zu seiner Mutter, damals im Libanon, dem er vor 26 Jahren den Rücken kehrte, um sich in Madrid eine neue, schwule Identität zu schaffen. Miguels – durchaus selbstironische – Perspektive wird konterkariert durch die Erinnerungen von Weggefährten, aber auch durch das Insistieren, mit dem die Filmemacherin seine Selbstdarstellung hinterfragt.

Im serbischen »Kelti« von Milica Tomovic wird ein Kindergeburtstag zum Brennpunkt familiärer Konflikte, als die verschiedenen Familienmitglieder von weit her eintreffen, gegenwärtige und vergangene Beziehungen sich aneinander reiben und einige der anwesenden Eltern ihre eigene Agenda verfolgen.Schließlich kommen auch, es ist das Jahr 1993, die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten im einstigen Jugoslawien an die Oberfläche. Das Geschehen spielt sich fast gänzlich in den vier Wänden des Hauses ab. Ähnlich konzentriert erzählt Ronny Trocker in »Der menschliche Faktor« von den Rissen in einer gut situierten Familie, die sich nach einem Einbruch in ihre Ferienwohnung an der belgischen Küste auftun. 

Immer wieder springt der Film von den Ereignissen in Hamburg, wo die Familie lebt, und dem Ferienhaus hin und her, der Einbruch wird jedes Mal aus einer anderen Perspektive gezeigt – hat er überhaupt stattgefunden? Und wenn ja, steht er in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Tatsache, dass der Ehemann für die gemeinsam geführte Werbeagentur jüngst den Auftrag für eine politische Partei angenommen hat? Ein beklemmendes Psychogramm. Weit weg von ihren Familien sind die Jungen im türkischen »Brother’s Keeper« von Ferit Karahan: in einem entlegenen Internat im Bergland mit strengen Regeln, die Trennung von der Außenwelt forciert durch den Schnee, der die Straßen kaum passierbar macht. Eine Bestrafungsaktion zieht Kreise: Am nächsten Morgen ist einer der Schüler krank und liegt irgendwann nur noch reg- und bewusstlos in der Krankenstation. Während sich Lehrer und Schüler in wechselnden Konstellationen um ihn versammeln, erhitzt sich die Atmosphäre angesichts gegenseitiger Schuldzuweisungen und der bruchstückhaften Enthüllung, was in der Nacht geschah, zum eindringlichen Kammerspiel. 

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