Rotterdam: Streamingsüchtige und Spione

»Present Perfect« (2019)

»Present Perfect« (2019)

Offiziell ist Rotterdam nur ein sogenanntes B-Festival – also nicht in einer Liga mit Cannes, Venedig und Berlin. Aber es gilt, zu Recht, als eines der innovativsten Filmfestivals. Das liegt vor allem daran, dass man regelmäßig den oder die Festivaldirektor/in wechselt und sich gern erneuert.

Den basisdemokratischen Ansatz, drei Filme gleichberechtigt mit einem Tiger Award auszuzeichnen, gibt es in Rotterdam nicht mehr. Das liegt sicherlich auch an den veränderten Rahmenbedingungen. Früher bedeutete ein Hauptpreis automatisch einen Vertrieb in Holland, zur Not gab es den Eigenverleih des Festivals, auch eine DVD-Veröffentlichung war Pflicht. In digitalen VOD-Zeiten kooperiert man nun mit dem arthouse-affinen Anbieter MUBI, der nach dem Festival den brasilianischen Wettbewerbsbeitrag »In the Heart of the World« ins Programm nahm.

Gewonnen hat den diesjährigen Tiger Awards die Regisseurin Zhu Shengze für ihren Film »Present Perfect«. In der Produktion aus Hongkong dreht sich alles um die neue Streamingsucht von über 400 Millionen Chinesen. »Present Perfect« ist kein klassischer Dokumentarfilm; er besteht hauptsächlich aus found footage-Aufnahmen aus dem mitunter sehr skurrilen Alltag von Arbeitern oder Selbstdarstellern. Die Filmemacherin musste aus mehr als 800 Stunden Material auswählen und beobachtete einige der Amateur-Selbstdarsteller über 10 Monate lang. Es ist auch ein Film, der verdeutlicht, wie zensiert das Internet in China ist. Politische Botschaften sucht man hier vergeblich.

Hochpolitisch, mitunter sogar hochaktuell und dann auch wieder (film-)historisch war die Nebenreihe »The Spying Thing«. Es ging dabei im weitesten Sinne um Spionage, um Überwachung, Big Data und Mystery. Neben Klassikern wie »Spione« von Fritz Lang, »Ninotchka« von Lubitsch oder »Eins Zwei Drei« von Billy Wilder sah man auch längst Vergessenes aus dem kalten Krieg. Ziemlich schräg und fast avantgardistisch waren zwei Beiträge aus Bulgarien und der Tschechoslowakei. Der bulgarische, »There Is Nothing Finer Than Bad Weather« von 1971, ist ein Nouvelle-Vague-Verschnitt, der allmählich zum Kultfilm avanciert mit seiner lässigen Haltung – er nimmt das Genre nicht allzu ernst. Spannender war der tschechoslowakischen Beitrag »Skid« von 1960, der zwischen Westberlin und Prag spielte. Als Ko-Autor fungierte Pavel Kohout! Hier geht es weniger um den sozialistischen Helden als um die Schizophrenie von Agenten. Sehr langsam und fast ein Antispionagefilm ist dann der in Vergessenheit geratene »The Mackintosh Man« von John Huston. Paul Newman sieht man hier als britischen Spion, der einen konservativen britischen Machtpolitiker entlarvt, gespielt von einem herrlich bösen James Mason. Am Ende sind die müden Spione sogar bereit, auf einen Showdown zu verzichten. Nur eine junge, fanatische Frau – gespielt von einer fast somnabulen Dominique Sanda – macht einen Strich durch das schöne gentlemen agreement.

Das absolute Highlight der Reihe kam aus Südkorea. Im Thriller »The Spy Gone North« erfährt man viel über die Geschichte des geteilten Koreas – wie der Norden die Wahlen im Süden beeinflusste und der südkoreanische Geheimdienst sich politisch benutzen lässt. Keiner dieser Filme war eine Weltpremiere, so lief The Spy Gone North« bereits in Cannes. Was den Rotterdamer Festivalmachern jedoch gelingt, das ist: Filme in einem neuen Kontext zu präsentieren, ihnen so große Aufmerksamkeit zu verschaffen. Rotterdam setzt nie auf Stars oder rote Teppiche, sondern auf die Filme und ihre Regisseure und Regisseurinnen. Genau das macht dieses so erfolgreiche Publikums- und Branchenfestival aus. 

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