Kritik zu Vergiss mein ich

© Real Fiction

2013
Original-Titel: 
Vergiss mein ich
Filmstart in Deutschland: 
02.05.2014
L: 
92 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Eine Frau konstruiert Weiblichkeit: In seinem gut gespielten Amnesiedrama bürstet Autorenfilmer Jan Schomburg postmoderne Gendertheorien gegen den Strich

Bewertung: 4
Leserbewertung
3.5
3.5 (Stimmen: 2)

Auf der Party kippt Lena plötzlich um. Aus ihrer subjektiven Perspektive sind verschwommene Wackelbilder zu sehen. Unbekannte tanzen hektisch um sie herum. In der neurologischen Notaufnahme diagnostiziert der Arzt später eine Hirnhautentzündung. Die Folge: retrograde Amnesie. Die Geisteswissenschaftlerin weiß nicht mehr, wer sie ist, begegnet auch ihrem langjährigen Ehemann Tore wie einem Fremden. Ihr Arbeitszimmer, ihre Bücher – all das erlebt sie wie in einem falschen Film. Auf dieses Thema hat das Kino nicht gerade gewartet. Vom Griffith-Stummfilm The Unchanging Sea aus dem Jahr 1910 bis zur Bourne Identität, von Hitchcocks Spellbound bis zu Der englische Patient: Die Liste mit Amnesiefilmen ließe sich beliebig verlängern. Der Blick auf eine Auswahlfilmografie mit mehr als 200 Titeln, die dieses dramaturgisch ergiebige Motiv variieren, verdeutlicht jedoch, dass meist Männer den Blackout haben. Autorenfilmer Jan Schomburg rollt das Amnesiethema nicht nur aus weiblicher Sicht auf. Originell ist sein kleiner, aber feiner Film, weil er die damit verbundene Problematik auf die Frage der sexuellen Identität zuspitzt.

Seine Protagonistin Lena Ferben ist beziehungsweise war eine profilierte Gendertheoretikerin, vielleicht eine Mischung aus Judith Butler und Luce Irigaray. Das klingt verkopft, doch der Autorenfilmer inszenierte keinen hölzernen Thesenfilm. Im Gegenteil. Lenas schwieriger Weg zurück ist filmisch ansprechend. So gibt es für den Ehemann zunächst eine Art Lichtblick: Lena kann sich plötzlich wieder an ihren ersten gemeinsam Abend erinnern, weiß sogar noch den Namen des Schnapses, den sie damals mit ihm trank: Kettenfett. Doch dieses Wissen stammt aus ihren Tagebüchern. Anhand dieser Aufzeichnungen und Videodokumentationen ihrer universitären Vorträge eignet Lena sich ihr altes Leben wieder an – so wie man bei der Führerscheinprüfung die Straßenverkehrsordnung auswendig lernt. Ihre Kleiderwahl wirkt zunächst teenagerhaft, doch auch den weiblichen Dresscode hat sie bald geknackt.

Ob ein solcher Heilungsverlauf plausibel ist, darüber mögen sich die Experten streiten. Originell erzählt ist Lenas märchenhafte Rückkehr allemal. Maria Schrader verkörpert eine »Doppelrolle«: eine Frau, die spielt, wie man Frau sein könnte. Dozierte sie früher im Hörsaal über die Dekonstruktion »performativer Muster der Geschlechterverhältnisse«, so macht die neue Lena das Gegenteil: Sie eignet sich weibliche Identität als Summe femininer Klischees wieder an. Frei nach Joan Rivière ist Weiblichkeit eine – authentische – Maskerade. Im Gegensatz zu Schomburgs Debüt Über uns das All, wo die gefakte Identität einen Mann in den Suizid führte, übernimmt Lena lustvoll die Regie, macht aus dem falschen ihren eigenen »Film«. Ihr Mann verliert dabei etwas die Orientierung, er muss bei seiner potemkinschen Frau »eine Lücke« finden. Eine solch humorvoll-frivole Schlusspointe hat man in einem deutschen Film lange nicht mehr gesehen.

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