Kritik zu Tótem

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Abschied mit Familie und Party­gästen: Lila Avilés erzählt in ihrem Film aus der Perspektive der siebenjährigen Sol von der wahrscheinlich letzten Geburtstagsfeier ihres krebskranken Vaters 

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Es dauert, bis man die Topographie des großen Hauses verstanden hat, das Lila Avilés Film nur für wenige Augenblicke verlassen wird. Ganz zu schweigen von den vielen darin herumwuselnden Figuren. Es wird gekocht und gekebbelt, geduscht und gewaschen, aufgeräumt und dekoriert. Väter, Schwestern, Brüder, Kinder: Sie alle tanzen eine Mehrgenerationenchoreographie um jenes Zimmer, in dem sich der Maler und junge Vater Tona (Mateo García Elizondo), ausgemergelt vom Krebs, auf seinen letzten Geburtstag im Kreise seiner Liebsten vorbereitet. 

»Ich wünschte, Papa müsste nicht sterben«, sagt die siebenjährige Sol (Naíma Sentíes) ihrer Mutter Lucia (Iazua Larios) bei einem Spiel, bei dem sich diejenige, die in einem Tunnel länger die Luft anhalten kann, etwas wünschen darf. Mit Tonas Tochter kommen wir in dem Haus an. Sie trägt eine Clownsnase und eine Regenbogenperücke für die mit der Mutter geplante Geburtstagsperformance für den Vater.

Der Film, der im Wettbewerb der Berlinale Weltpremiere feierte und als Mexikos Einreichung für den besten internationalen Film bei den Oscars ausgewählt wurde, blickt zunächst aus den Augen des Mädchens auf das Treiben. Eine große Melancholie lastet auf Sols Schultern. Wie mit der Situation umgehen? Auch wenn der Film nicht ausschließlich bei Sol bleibt, so erinnert dieser kinematografische Abschied, auch dank der poetisch-flirrenden Bilder von Kameramann Diego Tenorio, an Carla Simóns »Fridas ­Sommer« oder ihren Berlinale-Gewinner »Alcarràs – Die letzte Ernte«.

Sol möchte unbedingt zum Papa, wird jedoch auf später vertröstet, weil Tona sich, wie es immer wieder heißt, für die Feier ausruhen müsse. Die Schnecke, die sie neben vielen anderen Tieren zwischen Sonne und Schatten in Haus und Garten beobachtet, wird hier zur doppelten Metapher: für den Vater, der erst später langsam den Kopf aus seinem Schneckenhaus stecken wird, und für das Mädchen selbst, das sich von allem fernhält und verschließt.

Die beiden Pole der Diskussionen um Tona und um seine Therapie – Party oder nicht, Chemo oder nur Morphium? – manifestieren sich in Sols Tanten Nuri (Monserrat Marañon) und Alejandra (Marisol Gasé). Erstere verzweifelt, als ihr der erste Kuchen für den Bruder verbrennt. Sie hält sich backend und trinkend von der Party fern, während ihre Schwester alles nur Erdenkliche für den Abend tut, den finanziellen Engpässen zum Trotz. Der gärtnernde Opa, ein Psychiater, ärgert sich über die Geisteraustreiberin, die mit Fackel durch die Wohnung schleicht: »Ihr brennt noch mein Wartezimmer ab. Ich hab’ keine Lust auf diesen satanischen Humbug!«

Die 1982 in Mexiko-Stadt geborene Regisseurin verfilmt ihr eigenes Drehbuch als vor Leben berstendes Kammerspiel im klassischen engen 4:3-Format. Sie verdichtet den Tag in dem Haus zu einem vielstimmigen, tragikomischen Porträt einer Familie im Ausnahmezustand. Wobei Porträt zu definiert klingt, denn der Film erzählt nichts aus, sondern findet in der Beiläufigkeit, in einer feinsinnig choreographierten, aber losen Erzählung seinen Modus. Aus kleinen Gesten, Blicken und kurzen Sätzen erschließen sich die Verästelungen und Konflikte innerhalb der Familie, die wie die Äste des geliebten Bonsai-Baums von Tonas verwittertem Vater sprießen. 

Meisterhaft verflechtet Avilés die vielen Figuren, Rituale und einen sinnlichen Naturalismus voller Tiermetaphern zu einem durch und durch menschlichen Drama. Sehr treffend fängt der Film jenes Gefühl an der Grenze des Seins ein: Die Angehörigen und der Todgeweihte wollen und müssen funktionieren, immer weitermachen, und das nicht obwohl, sondern weil das Unausweichliche naht. »Manchmal kann man Dinge, die man liebt, nicht sehen. Aber sie sind trotzdem bei dir«, erklärt Tona seiner Tochter. Ein sehr wahrer Satz in diesem Film über den Tod, der das Leben feiert.

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