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© Paramount Pictures

Die Wiedergeburt des Puppenfilms aus dem Geiste des Dramas: Charlie Kaufman, Meister der surrealen Identitäts-Dekonstruktion, erzählt in Stop-Motion eine erstaunlich nüchterne Geschichte von Einsamkeit und Liebe

Bewertung: 5
Leserbewertung
3.75
3.8 (Stimmen: 4)

Das »Fregoli-Syndrom«, benannt nach dem Illusionskünstler Leopoldo Fregoli, der verblüffend schnell in immer neue Kostüme und Charaktere schlüpfte, bezeichnet eine wahnhafte Störung, bei der der Erkrankte die Menschen aus seinem Umfeld für ein und dieselbe Person in verschiedenen Verkleidungen hält. »Fregoli« heißt auch das Hotel, in dem in »Anomalisa« der Motivationstrainer Michael Stone eincheckt, und obwohl Stone wahrlich genug andere Probleme hat, scheint er auch an diesem Syndrom zu leiden – und mit ihm der Zuschauer: Während Stone eine individuelle Physiognomie hat, tragen sämtliche Menschen, die ihm begegnen, dasselbe ausdruckslose Gesicht, trotz verschiedenster Kleidung und Haartrachten. Und alle haben die immer wieder anders verstellte Stimme von (im Original) Tom Noonan.

Als Zuschauer fällt einem das zunächst kaum auf, so gebannt ist man vom Detailreichtum und der Natürlichkeit, mit der der Puppen-Animationsfilm »Anomalisa« seine Welt inszeniert. Es ist keine Märchen- oder Fantasyszenerie; diese Puppenstube ist hautnah an unserer Welt angesiedelt und mit filigraner Handwerkskunst zum Leben erweckt. Ihr Naturalismus reicht bis zu Speckfalten, tränenden Augen und der obligatorischen Geldbörse in der hinteren Hosentasche des Protagonisten. Ebenso alltagsnah und erwachsen ist die Geschichte, die der Film erzählt: von einem Mann (Originalstimme: David Thewlis), der sehr tief in einer Midlife-Crisis steckt. Am kommenden Tag soll er einen Vortrag halten, voller kluger Ratschläge zur Kundenservice-Optimierung, er selbst aber ist an einem Nullpunkt allumfassender Ratlosigkeit angekommen, gefangen in der Routine als Ehemann und Vater und in einer Weltwahrnehmung, der alles fremd, gleichgültig und dumm erscheint, austauschbar wie die Menschen um ihn herum. Auch eine Exliebschaft, die er vor vielen Jahren verlassen hat und die er nun aus Einsamkeit anruft und trifft, sieht genauso aus wie all die Fremden. Das Date wird folgerichtig zum Desaster. Doch am späteren Abend wird er Lisa (Jennifer Jason Leigh) kennenlernen, die seine Lebensgeister weckt, denn Lisa ist anders als all die anderen. Öffnet sich da ein Ausweg?

Charlie Kaufman hat mit »Anomalisa« sein eigenes Theaterstück – veröffentlicht unter dem Pseudonym Francis Fregoli! – für die Leinwand adaptiert, per Crowdfunding finanziert und gemeinsam mit dem Animationsspezialisten Duke Johnson inszeniert. Die Figuren des Stücks von sehr menschenähnlichen Puppen aus dem 3D-Drucker und in Stop-Motion-Technik verkörpern zu lassen, ist ein ziemlich genialer Kunstgriff. Denn die Verschiebung Mensch/Puppe spiegelt die Wahrnehmung Stones, dem Selbstverständliches fremd geworden ist. Dass da Bewegungen ein wenig ruckhaft ausfallen, die Gesichter maskenhaft sind und schon mal herunterfallen, passt in seine gestörte Welt. Darüber hinaus ermöglicht der Verfremdungseffekt dem Betrachter, Distanz einzunehmen und Vertrautes neu anzusehen; unser Blick wird geschärft, so dass all die allzumenschlichen Neurosen, die Kaufman hier mit der allergrößten Ruhe auffächert, überraschende Spannung entwickeln, musikalisch zurückhaltend, aber wirkungsvoll unterstrichen vom Hauskomponisten der Coens, Carter Burwell.

Die Momente von Nähe und Intimität zwischen Stone und Lisa sind dann umso ergreifender. Lange nicht mehr gab es im Kino eine derart lebensnahe, berührende – und ja, sogar erotische – Sexszene wie zwischen diesen beiden Puppen. Dass »Anomalisa« uns so stark mit Darstellern identifizieren lässt, deren Mechanik doch stets sichtbar bleibt, ist Illusionskunst von allerfeinster Manier.

Der Humor kommt bei alldem nicht zu kurz, auch mit einzelnen grotesken Elementen spielt der Film, etwa in einer exquisiten, kafkaesken Traumszene oder mit einer japanischen Puppe, die tatsächlich nur Puppe ist, doch ihre Geheimnisse hat. Getragen wird »Anomalisa« jedoch von einer Direktheit, die keinen Raum für die konstruktivistischen Verschachtelungen früherer Kaufman-Schöpfungen wie »Being John Malkovich« oder »Synekdoche, New York« lässt – Konzentration statt Exaltation. Doch auch mit diesem bedächtigen, sehr mitfühlenden Blick schaut er tief in die Wirren und Wunder unseres Gehirns und bleibt wohltuend mehrdeutig.

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