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Nach langer Zeit hat Jaco van Dormael wieder einen großen Film gedreht. Der Belgier erfindet mal kurz die Bibel neu und stellt äußerst charmante Gedankenexperimente über die großen Fragen des Lebens an

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Soso, er existiert also, dieser Herr Gott. Und entgegen weit verbreiteten Annahmen lebt er nicht in irgendwelchen außerirdischen Sphären, sondern in einer unbehaglichen Dreizimmerwohnung in Brüssel, ganz oben in einem unscheinbaren Hochhaus. Mit den Bildern, die man sich bislang von ihm gemacht hat, hat er herzlich wenig Ähnlichkeit. Den ganzen Tag schlurft er missgelaunt im Bademantel herum, trinkt Bier, beschimpft seine Frau, schlägt seine Tochter. Die meiste Zeit verbringt er vor seinem Instrument der Macht, einem alten DOS-Rechner, mit dem er den Menschen per göttlicher Direktive den Alltag verdirbt. Gott: ein Pascha, ein Prolet.

Es hat gewiss schon weniger waghalsige Prämissen gegeben im Kino. Doch Jaco Van Dormael (»Toto der Held«) demonstriert von Anfang an, dass er genug Witz und Fantasie für die ganz großen Fragen besitzt und schwere Themen mit leichter Hand zu behandeln weiß. Die Genesis, aus der Perspektive der 10-jährigen Éa (Pili Groyne) geschildert, schafft gleich zu Beginn eine Tonlage zwischen surrealem Schelmenstück und melancholischem Gleichnis. Mit frühreifer Ernsthaftigkeit »korrigiert« die kleine Gottestochter unsere Vorstellungen vom Schöpfungsakt und beklagt sich zugleich über die Niveaulosigkeit ihres Herrn Papa (herrlich: Benoît Poelvoorde). Van Dormael arrangiert das als rasante Montage, er setzt schräge Inszenierung neben dokumentarische Ausschnitte, lässt Giraffen durch die menschenleere belgische Metropole staksen, porträtiert Gottes Zuhause als im Gelsenkirchener Barock eingerichteten Alptraum, verblüfft mit altmodischer und moderner Tricktechnik – und stellt vor allem klar, dass er seine ganz eigene Mischung aus komödiantischer Übertreibung und lebenskluger Seriosität zu präsentieren gedenkt.

Das alles erinnert an den überbordenden Stil von Jean-Pierre Jeunet, an »Delicatessen« und natürlich an »Ámelie«. Aber Jaco Van Dormaels Vision ist weniger exzessiv, will nicht so sehr imponieren, sondern tiefer berühren. Wenn Éa erst einmal selbst Gott gespielt (sie kommuniziert den Menschen ihr jeweiliges Todesdatum per SMS) und ihren »Geburtskanal« hinter sich gelassen hat (eine schier endlose Röhre, die die göttliche Waschmaschine mit der irdischen Realität verbindet), widmet sie sich ihrer selbst auferlegten Mission. Sie will sechs zusätzliche Apostel rekrutieren, deren Namen sie in Gottes himmelhohem Aktenschrank gefunden hat, und wird dabei von einem Clochard (Marco Lorenzini) begleitet, der ein brandneues Testament verfassen soll und, nebenbei, als so ziemlich einziger Mensch kein Handy besitzt und deshalb den Tag seines Todes nicht kennt.

Der Reihe nach trifft Éa sechs Menschen, die aus sehr verschiedenen Gründen mit dem Schicksal hadern: eine einarmige Frau, einen grauen Angestellten, einen Sexsüchtigen, einen Mörder, eine reiche, aber einsame Hausfrau, einen kleinen Jungen, der lieber ein Mädchen wäre. »Wunderbare Verlierer« nennt Van Dormael die Mitglieder dieses Ensembles, und er entfaltet auch im Por­trät ihrer Biografien einen bunten Mix der Stile. Die kleine Protagonistin ordnet jedem neuen Apostel ein Lied zu, das ihn oder sie treffend charakterisiert; ähnlich geht auch Van Dormael vor, indem er jeder Episode einen eigenen filmischen Stil angedeihen lässt. Der Ton wechselt dabei von zartfühlend bis grotesk (Catherine Deneuve landet mit einem Gorilla im Bett), von wehmütig bis märchenhaft (Didier de Neck folgt einem Vogel bis zum Nordpol). Und so offensiv Van Dormael dabei auch übertreiben mag, so ernsthaft ist er doch an seinen Figuren und ihren kleinen und großen Problemen interessiert.

Über allem schwebt nichts weniger als die Frage nach dem Sinn des Lebens, die seltsamerweise erst dann eine neue Drehung bekommt, wenn die Endlichkeit der menschlichen Existenz nicht mehr wegzudiskutieren ist. Sanft und zugleich nachdrücklich erinnert uns »Das brandneue Testament« daran, keine Zeit zu verlieren.

... zum Interview mit Regisseur Jaco van Dormael

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