Sehen wir nur noch rot?

Das Wort vom dankbaren Publikum ist mit Vorsicht zu genießen. Es wird oft gönnerhaft benutzt; gern von Leuten, die eigentlich dem Publikum zu Dank verpflichtet wären. Natürlich darf auch das Publikum für Vieles dankbar sein. Oft genug beweist es damit seine Großzügigkeit.

Nach meiner Erfahrung besitzt es unschätzbare Vorteile, einen Wettbewerbsfilm nicht in der Pressevorführung, sondern in der Galavorstellung unter lauter Zivilisten zu sehen. Einer dieser Vorteile besteht darin, von überraschenden Jury-Entscheidungen nicht überrascht zu werden: Wenn man nach einem Film, auf den die Kritiker nur mau reagieren, stehende Ovationen miterlebt, spürt man, dass es noch eine ganz andere, innigere Verbindung geben kann zwischen dem Kunstwerk und denen, an die es sich richtet. Das ist mir in vergangenen Jahren beispielsweise bei Esmas Geheimnis oder Cäsar muss sterben passiert.

An die Preisverleihung wollen wir aber erst mal noch nicht denken. Der Weg dahin ist noch lang und könnte noch beschwerlich werden. Vielmehr will ich Ihnen zwei Erlebnisse aus meiner Einbettung in das normale Zuschauerdasein im Berlinale-Palast schildern. Das erste hat mit Nachbarschaft zu tun, das zweite ist ein eher umfassenderer Stimmungsbericht. Bei Jafar Panahis Taxi hatte ich das Glück, neben zwei lebhaften jungen Damen zu sitzen, die möglicherweise aus dem Iran stammten und anscheinend Farsi ohne Untertitel verstanden. Sie reagierten augenblicklich auf die Fahrgäste, die in Panahis Taxi steigen. Noch bevor ich die Übersetzung lesen konnte, lösten das Gebaren der Passagiere, ihr Sprechduktus, ihre Körpersprache bei ihnen Abwehr oder Zustimmung aus. Über den Mann, der die Todesstrafe für Reifendiebe fordert, lachten sie sich nach wenigen Sätzen schon scheckig. Das löste bei mir Skepsis aus, ob den Untertiteln (gleichviel, ob in englisch oder deutsch, da gibt es übrigens oft haarsträubende Unterschiede) wirklich zu trauen ist. Der Gedanke, sie würden einfach bestimmte Archetypen des Alltags wiedererkennen, beschwichtigte mich ein wenig. Auf jeden Fall lenkten sie meine Wahrnehmung des Films entscheidend. An ihrer Seite wurde ich empfänglicher für Gesten und Zwischentöne. Dafür bin ich ihnen ungeheuer dankbar. Vielleicht würden so auch Zuschauer in Teheran und anderswo im Iran reagieren, wenn sie Panahis Filme nur sehen dürften. Nein, das "Vielleicht" möchte ich lieber durch ein "Bestimmt" ersetzen.

Am selben Tag durfte ich noch eine andere Erfahrung machen, in der sich eine Frage kristallisiert, die ich mir schon länger stelle. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Gala-Vorführung von 45 Years endlich begann. Zwei Reihen vor mir nahmen der ehemalige Regierende Bürgermeister Walter Momper und seine Frau Platz. Die hätten bestimmt auf prominentere Plätze Anspruch erheben könne als jene, die das Pressebüro mir und Konsorten zuwies (obwohl, schlecht war die Sicht keineswegs).

Die Zeit musste man sich damit vertreiben, die Live-Übertragung vom Roten Teppich anzuschauen. Die Mompers warteten geduldig. Wer weiß, vielleicht hätten sie sich den Film auch angesehen, wenn er nicht auf der Berlinale laufen würde?

Als das Filmteam endlich den Kinosaal betrat, geschah etwas Erstaunliches: Das Publikum spendete dem weit unbekannteren Tom Courtenay ebenso lang Applaus wie Charlotte Rampling. Ich habe eingangs nicht von Ungefähr von Großzügigkeit gesprochen.

Nach dem Film sagten nur der Regisseur Andrew Haigh und sein Produzent ein paar Worte. Courtenay und Rampling hingegen tanzten kurz, zwei, drei Schritte, dann war es genug. Das war hübsch, aber ungemein enttäuschend. Hätten Sie dem Saal-Publikum nicht doch etwas mehr für dessen Begeisterung zurückgeben können? Dankbar heißt ja nicht notwendig genügsam. Ihre Aufgabe hatten sie aber offenbar schon auf dem Roten Teppich erfüllt. Dieses Schaulaufen ist wichtiger geworden, seit sich Dieter Kosslick dabei an der Seite von Stars präsentieren kann. Ist das schon der ganze Glamour, den er sich für Berlin wünscht? Das Publikum und die Medien draußen waren nur auf Autogramme, flüchtige Nachrichtenbilder und nichtssagende sound bites für Boulevardmagazine aus. Die Zuschauer im Saal jedoch wollten den Film sehen. Ich finde, da hatten sie auch verdient, dass die Stars mit ein paar Worten für ihn einstehen, vielleicht sogar etwas Geistreiches sagen, das die Zuschauer als magische Erinnerung heim nehmen können.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt