Zögern, das vorwärts drängt

Zu einer der vornehmsten Aufgaben für Filmkomponisten gehört es, die kleine und die große Geschichte miteinander zu verknüpfen. Das ist ein heikles Bündnis, denn das Intime und die Historie befinden sich selten im Einklang. Wojciech Kilar bewältigte diesen Spagat stets mit großer Wachsamkeit. Zuweilen stand er aber noch vor einer anderen, ziemlich exklusiven Herausforderung: von der Industriegeschichte seiner polnischen Heimat zu erzählen.

Die diesjährige Ausgabe des Festivals Film Polska in Berlin widmet ihm eine Hommage mit dem Titel „Wandelbarer Stilist“, die morgen (12. 9.) im Berliner Zeughauskino beginnt. Der Titel verweist einerseits auf das breite Spektrum der Sujets und Idiome, die sein Schaffen als Filmkomponist umfasst (https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/wandelbarer-stilist-hommage-an-wojciech-kilar/), Zugleich sind seine Partituren von enormer innerer Wandlungsfähigkeit. In den ersten beiden Teilen von Kasimiercz Kutz` Trilogie über die historischen Arbeitskämpfe in Schlesien werden bereits beide Impulse hörbar. „Salt of the Black Earth“ von 1969 (ich halte mich an die englischsprachigen Titel im Programm) hebt mit dem Pathos einer geschlagenen Trommel an, die zunächst militärisch klingt, dann aber zu einer Tanzmusik hinübergleitet. Das Brauchtum wird zu einem Leitfaden seiner Partitur, in der Arbeiter.- und Soldatengesänge aufscheinen und die gehaltenen Töne später wie eine Sirene, wie ein Signal zum Aufruhr anstacheln. Ein zurückhaltender Chor steht hierbei für das Kollektiv. „Pearl in the Crown“ (1971) beginnt epischer, mit einem dramatischen Klavierthema, zu dem sich sodann Streicher gesellen. Ein klassisches Liebesthema klingt später aus gegebenem Anlass an. Die Wurzeln in der Folklore werden in beiden Fällen jeweils neu sortiert.

Kliars Ausbildung an den Musikakademien in Kattowice und Krakau sowie der Besuch bei den legendären Darmstädter Ferienkursen hat ihn mit allen Wassern der Neuen Musik gewaschen. Dem Vorwärtsdrängen, das bereits seine Kompositionen für den Konzertsaal prägt, eignet bereits ein Moment des dynamischen Fortschritts an. In Wajdas „The Promised Land“ (den ich im Eintrag „Das Flüstern der Schornsteine“ vom 20. 9. 24 noch unter dem deutschen Titel aufrufe) rekapituliert er gleichsam die ökonomische Entwicklung von Lodz. Sie spiegelt sich in einer metallischen, industriellen Musik, in die sich auch, der Konfliktlage angemessen, militärische Klänge mischen, die indes unter dem Vorzeichen der Ironie stehen. In „Der König und der Vogel“ (1979), dem Animationsfilm von Paul Grimault und Jacques Prévert, vertont er eine Art retro-futuristischen, auf jeden Fall infernalischen Arbeitsmoloch mit gleißenden Fließbandklängen. Es ist schwer zu bestimmen, in welcher Epoche dieses aufgeklärte Märchen nun eigentlich spielen soll. Die Partitur ist ein faszinierender Wechselbalg, voller höfischer Tanz- und Marschmusik und einem hart angeschlagenen Klavierpart als Widerhaken; als die Hofschranzen das Liebespaar verfolgen, wird dies mit einem flinken Scherzo akzentuiert. Die Einstimmung ist indes ausgesprochen melancholisch, denn der erzählende Vogel hat seine gesamte Familie bei einem „Jagdunfall“ des Königs verloren. Kilars Partitur fungiert als wenn nicht monarchiefeindliche, so doch demokratietrunkene Propaganda. Die Unterdrückten, zu denen auch die Löwen des königlichen Privatzoos gehören, erheben sich im schwungvollen Walzertakt.

Ein Werk, das rund 100 Titel umfasst, lässt sich selbstredend schwer in einer kleinen Hommage abbilden. Aber die Beispiele sind thematisch und künstlerisch eng miteinander verknüpft. So enttäuscht ich war, dass Kilars symbiotische Partnerschaft mit Krzysztof Zanussi mit nur einem Film repräsentiert wird, so entschädigte mich das Wiedersehen mit „Im Jahr der ruhenden Sonne“, der 1984 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. In der Nachkriegsliebesromanze zwischen einem GI und einer verwitweten Polin finden das Intime und die Zeitgeschichte im Zeichen des Zweifels zusammen. Das Individuum erhält bei Kilar häufig sein eigenes Instrument, wobei die Flöte eingangs auch für die spätherbstlichen Strahlen der Sonne steht und bald von einem Klavier unterstützt wird. Seine Partitur ist ein Agent der Kommunikation – die Liebenden können sich kaum mit Worten verständigen -, die sich nie zwischen die Dialoge drängt, sondern das Ungesagte diskret zutage bringt. Sie ist schwelende Erwartung und Reaktion, ihr Zögern macht allmählich einer Dynamik Platz, die auf Vereinigung dringt.

Kilars Partitur für „Portrait of a Lady“ antwortet 1996 gewissernmaßen auf den Zanussi-Film. In Jane Campions Verfilmung des Romans von Henry James schleicht sie sich anfangs leise in die Szenen hinein, wie ein untergründiges Gefühl, das im Raum schwebt. Wiederum akzentuiert eine Flöte die Sehnsucht, Lebensträume und romantische Zerrissenheit von Isabel Archer. Kilar hat ein präzise Gespür für die Einsamkeit, die man in Gesellschaft empfinden kann und für jenen Moment, in dem etwas zerbricht. Mit dem Auftreten von John Malkovich werden die Streicher herrischer, die Rivalität zwischen Nicole Kidman und Barbara Hershey ist komplett dem Klavierspiel übertragen. Alles könnte melodramatisch enden, aber Kilar lenkt stets besonnen ein.

Für Coppolas barocken „Dracula“ hingegen zieht er von Anfang an alle Register. Zweifellos wollte der Regisseur eine mitteleuropäische Klangfülle. Hier herrschen dräuender Hochdruck und unaufhaltsames Verhängnis, fast glaubt man sich in einer Oper, nicht nur wegen der gelegentlichen Sirenengesänge, sondern vor allem wegen der fernen Sopranstimme, die Kontinente überwindet. Das rhythmische Vorwärtsdrängen kennt fast keinen Unterlass, es ist der Entschlossenheit der Titelfigur geschuldet. Mit ihm überspringt die Musik mehrere Jahrhunderte. Die eindringlichen Molltöne weichen jedoch auch lyrisch-hellen Passagen, ein Glockenspiel erklingt im Liebesmotiv von Mina Harker, die in einer Kinderwelt lebt. Kilar bringt ungemein viele Schichten ins Spiel und verstrickt emotionale Bewegungen in den Widerstreit. Das Ganze ist ein enormer, atemloser Bombast, den er jedoch agil auffächert. Die erste Begegnung von Mina und Dracula ist in tückisch helle, romantische Klänge gefasst, dann folgt ein hinreißender Cello-Einsatz, als er sie entführt. Kilar deutet die Vorlage und auch das Drehbuch tollkühn um, indem er diese verfemte Liebe klanglich legitimiert.

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