Eine Spurensuche

Wir saßen auf einem Restaurantschiff in Kreuzberg, als meinen Freund Joachim plötzlich ein Heißhunger auf Fish & Chips überkam. Sie wurden, wie es sich aus England gehört, in Zeitungspapier und mit Malz-Essig serviert. Da sein Appetit sich als überraschend stillbar erwies, bot er mir an, davon zu kosten. Er muss meinen Blick missverstanden haben, denn tatsächlich interessierte mich das Papier.

Es handelte sich nicht um eine aktuelle Zeitung, sondern das Faksimile einer alten Ausgabe der "Leipziger Neueste Nachrichten", genauer: der Titelseite vom 25. Februar 1930. Neugierig entfaltete ich das Blatt. Die Lettern waren kaum zu entziffern. Neben den Sportnachrichten und einem Artikel über den Aufschwung, den Pfand- und Leihhäuser während der Wirtschaftskrise erlebten, waren vor allem Anzeigen zu erkennen. Einige von ihnen spiegelten das ökonomische Klima wider. Eine annoncierte den Liquidationsverkauf eines Klavierherstellers, eine andere den Handel mit Gebrauchtwagen. Links unten auf der Seite entdeckte ich die Reklame zweier Kinos. Im "Casino" am Neumarkt lief »Millionen um ein Weib« mit George Bancroft, dessen alternativer oder früherer Titel »Börsenfieber« ebenfalls genannt wurde, sowie »Das Mädel aus der Tanzbar« mit Clara Bow, der als "Roman einer koketten Unschuld" beworben wurde. Im »Westend« standen »Vier Teufel« mit Janet Gaynor und der "Sensationsfilm" »Die Panzerpost« mit Tom Mix auf dem Programm. Nur zwei der Filme sind heute noch erhalten, auch die Kinos existieren nicht mehr; die Zeitung musste ihr Erscheinen 1945 einstellen.

Zunächst weckte vor allem »Vier Teufel« mein Interesse, der dem Publikum als Adaption der Novelle von Hermann Bang unter der Regie von F.W. Murnau vorgestellt wurde. Um das Melodram im Zirkusmilieu ranken sich viele Legenden, denn es ist die einzige von Murnaus Arbeiten in der USA, die als verschollen gilt. Für Filmarchivare ist er ein Sehnsuchtsobjekt wie die Langfassung von Erich von Stroheims »Greed«, Hitchcocks zweite Regiearbeit »The Mountain Eagle« und »London after Midnight« von Tod Browning (siehe „Der unheilige Gral vom 22. 7. 2024). Das Originalnegativ von Murnaus Film wurde offenbar bei einem Brand zerstört. 1948 soll noch eine Kopie existiert haben, die in den Besitz der Schauspielerin Mary Duncan gelangte (sie verkörpert die Femme fatale, die Zwietracht sät zwischen den Titelhelden).

Murnau drehte »4 Devils« (nein, er hat nichts mit Léa Mysius'„Five Devils“ zu tun) zwischen »Sunrise« und »City Girl«, als er bei der Fox noch uneingeschränkte Freiheiten hatte. Der Vorgänger war zwar nur ein Achtungserfolg, erwies sich jedoch als ungemein einflussreich: Mit einem Mal filmten auch Studioveteranen wie Frank Borzage, John Ford und Howard Hawks im "Murnau"-Stil. Janet Bergstrom, eine ausgewiesene Kennerin des Regisseurs, hat sich eingehend mit seiner Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte beschäftigt. Von ihr stammt nicht nur ein erhellender Abriss der amerikanischen Periode im Katalog zur Berlinale-Retro 2003 ("Ein Melancholiker des Kinos"), sondern auch der Video-Essay »Traces of a lost film«, in dem sie eine Art Rekonstruktion des Geisterfilms anhand von Drehbuchauszügen, Arbeits- sowie Standfotos und Zeichnungen des Szenenbildners Robert Herlth unternimmt. Er ist als Bonusmaterial diverser DVD-Ausgaben von »Sunrise« und auch auf Youtube greifbar. Bergstrom spekuliert über die Kamerastrategien Murnaus und streicht dabei auffällige Perspektivenwechsel heraus. Sie geht ungemein akribisch vor: Die Publicity-Fotos geben Lichteinfall und Kameraposition der Einstellungen nur unzureichend wieder, während die Entwürfe von Herlth diese erheblich genauer vorwegnehmen. Ein formidables Trüffelschwein: Dank des Zooms auf das Foto einer Gruppe von Set-Besuchern meint sie den Akrobaten Alfredo Cordona erkennen zu können, der berühmt war für den dreifachen Salto, welchen die Artisten im Film ebenfalls aufführen – in Murnaus Schnittfassung mit fatalen Folgen, was in späteren Versionen jedoch zugunsten eines Happyends nachgebessert wurde.

Die Produktion von »4 Devils« fiel just in jene Zeit des Umbruchs, als die Fox und andere Studios auf den Tonfilm umrüsteten. Er erlebte zwei Premieren, als Stummfilm im Oktober 1928 und dann im Juni 1929 in einer Tonfilmfassung mit Dialogszenen, an denen Murnau nicht beteiligt war. Sie wurde mit dem Slogan "Janet Gaynor talks!" vermarktet. Die stumme Fassung war zu diesem Zeitpunkt, wie Bergstrom annimmt, für den Verleih schon nicht mehr geeignet. In Deutschland kam »Vier Teufel« am 21. November 1929 heraus – da sich zu diesem Zeitpunkt die Praxis der Mehrsprachenversionen noch nicht durchgesetzt hatte, wohl in einer Synchronfassung. Die ersten Kritiken erschienen am Folgetag. Im Katalog der Berlinale-Retro sind zwei von ihnen nachgedruckt. Herbert Ihering und Ernst Jäger entdeckten in ihm noch das Aufbäumen einer nun erlöschenden Ästhetik und beklagten, dass dem Publikum die Stummfilmfassung vorenthalten wurde.

Die anderen drei Filme, die im Februar 1930 in Leipzig liefen, liegen ebenfalls an dieser Schnittstelle. »Millionen um ein Weib« (im Original: »The Wolf of Wall Street«) war 1929 eine der ersten Tonfilmproduktionen der Paramount, »Das Mädel aus der Tanzbar« hingegen, vom selben Studio, wurde im Vorjahr noch stumm gedreht. Ihn ereilte das gleiche Schicksal wie mehrere Komödien mit der trefflichen Clara Bow: Es existiert keine Kopie mehr von ihm. In seiner Biographie der Schauspielerin, die im Tonfilm nicht mehr so richtig an ihre früheren Triumphe anschließen konnte, erwähnt David Stenn ihn nur in einem abschätzigen Halbsatz. Was sich hinter »Die Panzerpost« verbirgt, ist schwerer zu ermitteln. Vielleicht handelt es sich um den Stummfilmwestern »Painted Post« von 1928. Das war Mix' letzter Film für die Fox, die danach den Vertrag mit ihm nicht verlängerten. Mit dem Aufkommen des Tonfilms war die Karriere des "Wunderreiters" (so kannte mein Vater ihn aus seiner Kindheit) zwar nicht vorüber, verlor aber an Glanz. Erstaunlicherweise ist ein Gutteil seines Schaffens erhalten.

Im "Casino" also zwei Paramount-Produktionen, im "Westend" zwei der Fox. Da ich kaum etwas über die Aufführungspraxis dieser Zeit weiß, fragte ich bei Rainer Rother nach, dem inzwischen ehemaligen Leiter der Deutschen Kinemathek. Er vermutet stark, dass die zwei Filme hintereinander liefen, da die Kinos damals in der Regel nur über einen Saal verfügten. "Die Weltwirtschaftkrise hatte zu einem deutlichen Besucherrückgang geführt", schreibt er, „und die Kinos reagierten oft mit Doppelprogrammen, eine Notlösung, um das Publikum zum Besuch zu animieren.“ Die Säle waren nicht klein, das "Westend" verfügte über 700 Plätze, das "Casino" über 547. In welcher Reihenfolge sah das Publikum die Filme? Aus Gründen der Attraktion bestimmt zuerst den stummen, dann den Tonfilm. So blieb der erlöschenden Kunst noch eine kurze Gnadenfrist.  

 

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