Die Zukunft fragt nicht um Erlaubnis

Einmal ist nicht genug, wie schon Jacqueline Susann wusste. Yorgos Lanthimos hätte gern einen Avatar, der ihn auf dem roten Teppich vertritt und zudem die immer gleichen Journalistenfragen beantwortet. Der Witwer der Fernsehkomödiantin Suzanne Somers hat gerade den Klon seiner Gattin vorgestellt und ist begeistert, dass er keinen Unterschied bemerkt. Auch unser Staatsminister für Kultur hat mittlerweile einen digitalen Zwilling präsentiert, der offenbar mehr Sprachen beherrscht als das Original.

Als sich die Regierungskoalition vor einigen Wochen in Berlin zu einer Klausurtagung traf, die zusammenschweißen sollte, was sich nicht vertragen will, konnte man den Eindruck gewinnen, Wolfram Weimers Vorstoß habe Schule gemacht: Kein Foto, kein Bewegtbild, auf dem die Kabinettsmitglieder nicht lächelten und Eintracht demonstrierten. Es war, als würde man einem Trupp sorgenfreier Stepfordfrauen zusehen. Lange gehalten hat die Harmonie ja nicht. Wie dem auch sei, es kann einem schon mulmig werden angesichts der Möglichkeiten der KI, uns zu ersetzen. Die Frage, was die Unterschiedslosigkeit über das Eheleben der seligen Suzanne Somers aussagt, stellt man lieber nicht.

Indes, es regt sich auch Gegenwehr. Robin Williams' Tochter hat die Fans ihres Vaters aufgefordert, ihr keine Videos mehr zu schicken, in denen ihr verstorbener Vater künstliche Scherze macht. Diese Verehrungsbeweise seien taktlos, krass und dumm und nichts, was er sich gewünscht hätte. Inzwischen bietet in den USA ein KI-Unternehmen den Nachfahren berühmter Leute, darunter Martin Luther King, seine Hilfe gegen den Missbrauch ihres Bildes durch OpenAI an. Die Geschäftsmodelle dieser schönen neuen Welt scheinen unerschöpflich. Dabei braucht sie anscheinend überhaupt keine Originale mehr. Channel 4 in Großbritannien hat unlängst eine gesamte Nachrichtensendung mit einer Moderatorin ausgestrahlt, die ihre Existenz nicht leiblichen Eltern, sondern Algorithmen verdankt. Von der aufstrebenden Darstellerin Tilly Norwood, die auf dem Zürich Film Festival der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, haben Sie natürlich längst schon gehört. Ich habe lange nach dem passenden Anlass gesucht, über dieses Phänomen zu schreiben, der Start von Guillermo del Toros »Frankenstein« scheint nun der passende zu sein.

Der launige Clip, in dem das Geschöpf vorgestellt wurde, ging nach anfänglichem Innehalten (in den ersten Monaten erzielte er gerade einmal 200.000 Klicks) rasch viral und löste in der Branche weitgehend Empörung aus. Er ist auf ziemlich blöde Weise selbstironisch (»She'll do anything I Say – I'm already in love«). Ihre Erfinderin, die Holländerin Eline van der Velden, frohlockte in Zürich, sie habe die nächste Scarlett Johansson erschaffen. Mir genügte die vorherige Scarlett durchaus. Zwar räumte sie pflichtschuldig ein, niemand solle durch ihre Erfindung arbeitslos werden. Genau dagegen hatte die Schauspielergewerkschaft SAG-AFTRA immerhin vor zwei Jahren viele Monate gestreikt. Und Gavin Newsom, der alerte Gouverneur von Kalifornien, hat schleunig ein Gesetz erlassen, das es KI-Firmen untersagt, Schauspielern die Arbeit wegzunehmen. Aber wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist, kriegt man ihn nicht wieder darin zurück.

Im »Guardian« erschien vor gut einer Woche ein Artikel mit der bangen Überschrift »Have we done ourselves out of a Job?«, in dem die Schauspielerin Olivia Williams berichtet, dass es inzwischen auf Filmsets gang und gäbe ist, für sogenannte body scans zu posieren – hierbei werden die biometrischen Daten erfasst, vorgeblich für die Nutzung in eventuellen Spezialeffekt-Szenen. Und vergessen wir nicht, dass für den jüngsten »Alien« der verstorbene Androidendarsteller Ian Holm wiederbelebt wurde. All das wirft eine Unmenge juristischer Fragen auf, die derzeit wohl noch in einer Grauzone liegen. Wer wird schon bereit sein, die unzähligen Darsteller bzw. ihre Nachfahren zu entgelten, deren Gesichtszüge und Körper zusammengerechnet werden, damit die digitalen Kreaturen Gestalt annehmen können?

Im nächsten Heft von epdFilm wird sich ein Themenschwerpunkt ausführlich mit dem Einsatz von KI im Kino beschäftigen. Aber bleiben wir für den Moment bei Tilly Norwood. Sie besitzt die unverfängliche Anmutung des Mädchens von nebenan. Wo dieses nebenan genau liegt, lässt sich indes schwer beantworten. Ihre Schönheit, deren einziger Makel darin besteht, eigenschaftslos zu sein, scheint aus einer Art globalem Ideal errechnet worden zu sein (das gilt auch für die Moderatorin auf Channel 4). Sie stellt sich allerdings auch als unerschrockene Kämpferin in Fantasy-Spektakeln, als berührbare Melo-Heldin etc. vor. Die Tube in London nimmt sie übrigens auch, KI-Stars sind wohl noch auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Tillys augenscheinliche Plausibilität in allen Lebenslagen soll mithin den Grundstein zu einer großen Karriere legen. Wie wird es aussehen, wenn ihre Figuren zweifeln, zaudern oder verzagt sind? Auf wessen Regieanweisungen hört solch eine Sprechpuppe? Sie selbst freut sich schon mächtig auf ihre Zukunft, ist ganz aufgeregt ob der unendlichen Möglichkeiten, die sich ihr bieten. (Selbstredend ist sie auf Facebook.) Eline van der Velden, die in einem früheren Leben offenbar Schauspielerin war (oder zumindest eine Stand-up-Satirikerin), kündigte an, dass ihr Mündel demnächst in Verhandlungen mit den großen Agenturen eintreten wird. Ein Agent, der auf sich hält, würde wahrscheinlich erst einmal auf eine Namensänderung seiner Klientin dringen.

Vom Leben gezeichnet ist sie noch nicht. Sie verfügt zwar über eine fiktive back story und ein »Privatleben«, aber existiert nur im Computer. Es kommt bestimmt nicht von ungefähr, dass dieser digitale Lockruf die Erscheinung einer jungen Frau annimmt. Damit geht eine Fama von Verfügbarkeit, Formbarkeit einher. Jungen Darstellerinnen sagt man gern nach, dass sie people pleaser sind – eher fügsam, vielleicht gar willfährig. Tilly Norwood verspricht (nicht explizit, sondern durch ihre schiere Existenz), auf dem Set kein Störfaktor zu sein. Natürlich könnten die Algorithmen ihr einen gewissen Eigensinn und Widerstandsgeist verleihen. Aber warum sollten sie das tun? KI hat, das gilt für sämtliche Bereiche ihres Einsatzes, immer mit Macht zu tun. Ihre Verlockung fürs Filmgeschäft dürfte zunächst naiverweise in der Kostenersparnis liegen. Man denke nur an all die Statistenheere, die nicht mehr eingekleidet, verköstigt und dirigiert werden müssten! Geduldig wird Tilly Norwood am Set allemal sein. Einen eigenen Trailer braucht sie nicht.

In einem bemerkenswerten Artikel, wiederum im »Guardian«, argumentiert Catherine Shoard, heutige Schauspielerinnen seien zu einem Gutteil selbst daran schuld, dass ihnen nun eine solche Konkurrenz zuwächst. Ohne Namen zu nennen, kritisiert sie mehrere Stars, die ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten fahrlässig durch Botox und plastische Chirurgie eingeschränkt hätten. Ich fand das recht eigentlich unerhört, musste aber daran denken, wie synthetisch das Kino ohnehin geworden sein könnte. Die Movie Brats, die nach der Glanzzeit des New Hollywood anfingen, Filme aus Kinoerinnerungen zu drehen, haben Anteil daran. Ich erinnere mich auch noch daran, wie US-Kritiker in den 1980ern von »designer acting« sprachen (und dabei hauptsächlich auf Mickey Rourke schimpften). In schwachen Stunden stellt man sich vielleicht vor, dass Hollywoodstars in einer enthobenen Sphäre leben, in der sie die Wirklichkeit nicht einholen wird und sie kaum andere Kontakte pflegen müssen als die zu Ihresgleichen, Agenten, PR-Leuten, Maskenbildnern, Friseurinnen, Köchinnen und Innenarchitekten. In lichten Momenten beschwichtigt dann die Erkenntnis, dass Spielberg und Co. im Laufe ihrer Karrieren gereift sind und tatsächlich von Dingen erzählen, die sie selbst erlebt haben oder sich einfühlen können in die Erfahrungen anderer. (Mickey Rourke lassen wir lieber mal aus dem Spiel.) Wird Tilly Norwood, wenn sie denn Karriere machen sollte, reifer werden? Ich vermute, das werden die Algorithmen zu verhindern wissen.

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