Ain't no boys here, just grown men.
Manchmal verwandeln sich Gerüchte in Tatsachen - und gelegentlich sind diese auch erfreulich. Im Netz wurde schon gemunkelt, dass "Blood & Sinners" zu Halloween in die IMAX-Kinos zurückkehren könnte. In den USA stand das schon eine Weile fest, aber für einen Einsatz hier zu Lande gab es bis vor wenigen zwei Tagen nur unzuverlässige Quellen.
Die befragten Kassiererinnen und Kartenkontrolleure, deren Mutmaßungen neugierige Internauten nicht ganz trauen mochten, sollten Recht behalten: nicht für eine ganze Woche (wie auf dem amerikanischen Markt), aber zumindest für heute und morgen. Das ist auch insofern begrüßenswert, als dass IMAX zu den bevorzugten Formaten von Regisseur Ryan Coogler gehört. Welch gründliche Gedanken er sich zu der Frage der unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten gemacht hat, demonstriert dieses coole Video (https://www.youtube.com/watch?v=78Ru62uFM0s). Das ist eine wunderbar anschauliche Lektion, in der er Schneisen schlägt durch das Dickicht der Angebote. Einerseits lässt er die Kinogeschichte Revue passieren und rekapituliert gleichzeitig seine eigene Regielaufbahn ("Fruitvale Station" etwa hat er auf 16mm gedreht). Dieser Regisseur verliert sein Publikum nicht aus den Augen! Ich wünschte, mehr Filmemacher besäßen seine Eloquenz und diese Zugewandtheit, spezifische Eigenschaften herauszuarbeiten sowie Vorzüge und Nachteile abzuwägen. Auf meiner Blu-ray wechselt "Sinnes" (ich bleibe fortan beim Originaltitel, obwohl der deutsche nicht schlecht ist) behände die Seitenverhältnisse, changiert zwischen dem extremen Breitwandverfahren (1: 2,76) und jenem Format, in dem der obere und untere Bildrand nicht abgekascht sind.
Sein Anschauungsunterricht hilft nebenbei auch, sich im Wirrwar der Formate zurechtzufinden, das ich zu Beginn des Monats für "One Battle after Another" (das selbe Studio, der selbe Wagemut, nur VistaVision gehört diesmal nicht zur Gleichung) zu skizzieren versuchte. Beide Filme verbindet zudem, dass sich die Wiederbegegnung mit ihnen lohnt, einfach schon deshalb, weil man nicht so leicht mit ihnen fertig wird: Beim ersten Mal harrt noch so vieles der Entschlüsselung. Sie bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Blockbuster und Autoreneigensinn, sind mit einem ungeheuren Optimismus der Form gestaltet. Sie sind Exzesse, stetig legen sie neue Schichten an sich frei. Es beschleicht einen (na, zumindest ich) das zuversichtliche Gefühl, beim Sehen verwandelten sie sich bereits in Klassiker.
Was mich zu einer anderen Verwandtschaft führt. Die heutige und die gestrige Überschrift lassen die Katze schon aus dem Sack: "Sinnes" und "The Man who laughs" handeln von Charakteren, die sich ihrer Menschsein nicht absprechen lassen. Bei Coogler fällt obiger Satz, als die Zwillinge Smoke/Stack mit dem Verkäufer der alten Sägemühle verhandeln. "I didn't mean anything by IT" , versucht der vierschrötige Südstaatler sie zu beschwichtigen, „It's just the way we're talking down here.“ Von wegen, er ist ein altgedienter Rassist, überdies der Anführer der hiesigen Abteilung des Ku-Klux- Klan! Bald stellt sich heraus, dass er mit den finsteren Vampiren im Bunde ist. Coogler erzählt, wie Paul Leni und Victor Hugo, eine Geschichte der Selbstermächtigung. Es gilt, geplagte Leben hinter sich zu lassen. Kein Zweifel, zwei Meisterwerke eines filmischen Universalismus'. Ich sollte noch erwähnen, dass beide Genre-Wechselbalge sind, mithin erzählerische Strategien der Ablösung und Befreiung verfolgen. .
Dem bodenständigen (und außerweltlichen) Rassismus setzt Coogler eine afro-amerikanische Folklore entgegen. Sie ist belastbar, wehrhaft und ahnungsvoll. Sie artikuliert sich auf mehreren Ebenen. Zum einen erobert der Film seinen Zwillingshelden ein neues Terrain, was womöglich eine ahistorische Nachbesserung schwarzer Biographien und Spielräume darstellt. Gleichviel, Smoke/Stack haben eine Vergangenheit, die bis jetzt im Kino nur Weißen vorbehalten war: Sie sind Veteranen des Ersten Weltkriegs und haben sich in Chicago bei Al Capone verdingt. Sie sind also durchaus befleckte Helden, die in ihre Heimat im Mississippi-Delta zurückkehren. Es ist auch die Rückkehr zu gescheiterten Liebesgeschichte. Eine von ihnen ist nicht ganz verloren, Die Magierin Annie, die Hoodoo praktiziert, verkörpert gleichsam den afro-amerikanischen Gegenzauber zum keltischen Vampirismus.
Die zentrale Ebene, auf der Coogler Tradition und Vermächtnis verhandelt, ist die Musik. In einem fabelhaften Kunstgriff lässt er bei der Eröffnung des Juke Joints, den die Zwillinge ins Leben rufen, eine veritable Ahnenreihe einstiger und gegenwärtiger Bluesmen auftreten. Ihr Cousin Sammie, der als Sohn eines strengen Pastors zerrissen ist zwischen dem Heiligen und dem Profanen, steht in einer stolzen Tradition des Teufelswerks. Coogler spielt hierbei auf den Gitarristen Robert Johnson an, der der Legende nach seine Seele verkaufte, um Blues spielen zu können. Es wäre bestimmt ertragreich, in diesem Licht noch einmal "Crossroads" von Walter Hill zu betrachten. Ich bezweifle, dass Coogler je über diese thematischen Verwandtschaft gesprochen hat. Er hat ohnehin ganz eigene Pläne für diese Figur: Sammie ist gewissermaßen das pièce de résistance von „Sinners“, eine stolze Gestalt des Gelingens und Überlebens. In einem Zeitsprung in die 1990er Jahre – schauen Sie sich unbedingt den Abspann an! - spielt Buddy Guy den gealterten Sammie. Da es in diesem Eintrag eben auch um Genealogien geht, kann ich mir folgenden Hinweis nicht verkneifen: Die Rolle ist nicht der erste Filmauftritt der Blues-Legende, Bertrand Tavernier engagierte ihn 2009 für "In the Electric Mist" - eine weitere blutige Südstaatenchronik, in der die Geister der Vergangenheit nicht ruhen können.




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