Unter veränderten Vorzeichen

Eines Tages findet Emma heraus, dass es das Wort "Vakuum" ebenso im Russischen wie im Englischen gibt. Die Entdeckung erstaunt sie, bereitet ihr aber keine Freude. Die junge Lehrerin steht zwischen beiden Sprachen, seit in Ungarn der Systemwechsel von 1989/90 einsetzt. Warum geht ihr gerade diese Vokabel durch den Kopf? Vielleicht, weil István Szabó nicht die mindeste Angst vor Symbolik hat.

Die Titelheldinnen von »Süße Emma, liebe Böbe« (1992) fallen, metaphorisch wie konkret, aus der neuen Zeit. Die zwei Lehrerinnen finden keinen Halt in der Gesellschaft, die sich radikal umorientiert. Szabós Film handelt davon, in welch unterschiedlichem Tempo die Menschen historische Umbrüche bewältigen. Etlichen gelingt es nur schwer; Böbe wird an ihnen zerbrechen. Emma (Johanna ter Steege) hadert zunächst einmal mit dem Unterrichtsstoff. Russisch war zuvor Pflichtfach, nun muss sie Englisch lernen. Auf dem Pausenhof lassen die Schüler ihre ausgedienten Bücher begeistert in Flammen aufgehen. Emma (Johanna ter Steege) will einschreiten, sie mag Zügellosigkeit nicht hinnehmen. Als sie später darauf beharrt, zwei Unruhestiftern in ihrer Klasse schlechte Noten in dem bald obsoleten Fach zu geben, schlägt ihr im Kollegium Feindseligkeit entgegen. Die Idealistin beginnt, ihren Beruf zu hassen. Der Direktor, den sie aussichtslos liebt, ist keine Hilfe, sondern entpuppt sich als Opportunist, der vor allem um seine Stellung bangt. Er tauscht geschwind das Namensschild der Schule aus, in der jetzt ein anderer, noch ungewisser Geist herrschen soll.

Auch in »Apa« (Vater) von 1969 muss eine Schule umbenannt werden, als sie nach Kriegsende verstaatlicht wird. Zuvor wurden die Klassen von strengen Nonnen und einem freigeistigen Priester unterrichtet, nun von einer schmucken Genossin. Die Schüler tragen jetzt Uniformen (dass die dazugehörigen Halstücher rot sind, entdeckt man erst in »Süße Emma, liebe Böbe«, da dieser Film noch schwarzweiß ist). Wiederum kreist Szabós Drehbuch um eine Leerstelle: den im Krieg gestorbenen Vater seines Protagonisten, des kleinen Takó. Er hat nur wenige Erinnerungen an ihn, auf die der Film immer wieder resnaishaft zurückkommt. Der Halbwaise dichtet ihm nun allerlei heroische Identitäten (als tapferer Partisan, Soldat oder herausragender Arzt) an; in seiner ersten Hälfte ist »Vater« eines der großen Kindheitsporträts der 1960er Jahre. Die Vaterlosigkeit ist zugleich ein kollektives Schicksal, das die meisten seiner Schulkameraden mit Takó teilen. Bei Szabó darf man es getrost zu einem nationalen extrapolieren, denn seine Gesellschaftsallegorien spiegeln die Perspektive von Generationen wider.

Das Filmmuseum in München richtet ihm in diesen Tagen eine kleine Retrospektive aus. Am nächsten Wochenende wird er persönlich in einige der Filme einführen, darunter seinen jüngsten "Abschlussbericht", der 2020 entstand. Im Programmheft nennt ihn Martin Girod ein "zorniges Alterswerk". Kundig führt er in seinem Essay in die thematischen Linien und Suchbewegungen dieses Oeuvres ein, namentlich die existenzielle Erfahrung, dass mit Regimewechseln frühere Überzeugungen und Gewissheit jäh zu Makulatur werden. Es wird nur rund ein Fünftel dieses Werkes gezeigt - in einer Auswahl, die sich aber durchaus hochrechnen lassen zu einem Gesamtbild.

Denn Szabós Filme kommunizieren ausgiebig miteinander, oft über die Jahrzehnte hinweg. »Mephisto« (1981) und »Taking Sides – Der Fall Furtwängler« (2001) etwa erschließen sich das Spannungsfeld zwischen Künstler und Macht unter veränderten Vorzeichen. Zu jedem der fünf gezeigten Filme kann man sich thematisch, motivisch oder stilistisch verwandte Filme hinzudenken. Das Tabuthema des Aufstands von 1956 greift er neben »Vater« bespielsweise auch in »Ein Liebesfilm« (1970) sowie dem epischen »Ein Hauch von Sonnenschein« (1999) auf; die ausrangierte Straßenbahn, die Takó als Student mit einigen Kameraden wieder in Betrieb nehmen will, tritt 1976 in »Budapester Legende« wieder auf den Plan. Der Beruf des Arztes, den Szabós Vater ausübte, gerät in "Abschlussbericht" erneut in den Mittelpunkt. Seine anfangs an der Nouvelle Vague geschulten ästhetischen Suchbewegungen, namentlich die Freiräume, welche die Phantasie der Kamera und Montage eröffnen, kulminieren in »Vater«. Danach wird sein Stil klassischer, kann sich dem Kammerspiel ebenso anschmiegen wie dem historischen Panorama, da er souverän sämtliche Abstufungen zwischen Großaufnahme und Totaler zu orchestrieren versteht. In der Filmauswahl lernt man zudem einige Stammschauspieler des Regisseurs kennen, etwa András Bálint und Péter Andorai; vor Brandauer ist bei ihm sowieso kein Entkommen. Ebenfalls lässt sich die Handschrift von Lajos Koltai studieren, mit dem er häufiger als mit jedem anderen Kameramann arbeitete.

Martin Girod schreibt zu Beginn seines Essays, das ungarische Kino sei uns heute merkwürdigerweise noch fremder als zur Zeit, als es durch den Eisernen Vorhang von Westeuropa getrennt wurde. Darauf fallen mir mehrere Repliken ein. Das mag einerseits mit dem erstaunlichen Siegeszug des rumänischen Kinos zusammenhängen, der die angrenzende Kinematographien überschattete. Zugleich ist derlei Nostalgie durchaus verständlich, denn Szabós Filme sind tief verwurzelt in Gesellschaft und Kultur seines Heimatlandes und öffneten ein Fenster zu einer fremden Nachbarschaft. Aber er hat eben auch schon früh über dessen Grenzen hinausgeblickt (in dieser Hinsicht diente „Ein Liebesfilm“ zweifellos als Vorbild für »Cold War – Der Breitengrad der Liebe« von Pawel Pawlikowski) und, sobald es möglich war, ein eminent europäisches Kino gedreht. Der mehrfach für den Oscar nominierte und einmal mit ihm ausgezeichnete Filmemacher hat den Systemwechsel schon umarmt, bevor er stattfand. Szabó dreht keine ausdrücklich autobiographischen Filme, aber sie beruhen stets auf einer lebensgeschichtlichen Vertrautheit. Sie summieren sich zu einer beharrlichen Gewissensprüfung. Zentrale Erfahrungen, die mit den Regimewechseln einhergehen, sind Anfechtung und Kränkung.

In »Süße Emma, liebe Böbe«, den er im Rausch von nur zwei Wochen drehte, kommt jedoch auch so etwas wie Aufbruch vor. In einer wunderbar ausgelassenen Szene unterhalten sich die Zwei mit ihren Freundinnen über die sexuelle Freizügigkeit, die nun möglich scheint und denken sich in einer Kaskade munterer Anzüglichkeiten geeignete Kontaktanzeigen aus. Die Allegorie ist nicht abstrakt bei Szabó, sondern belebt und widersprüchlich. Die Modellfälle tragen individuelle Züge. Faszinierend, wie vielschichtig er und Ronald Harwood ihren Wilhelm Furtwängler zeichnen, etwa in dem wunderbar beiläufigen Apercu, dass der inkriminierte Dirigent bei einem verregneten Konzert in einer Ruine als einziger im Publikum keinen Schirm, sondern demütig der Musik lauscht. Wie der amerikanische Denafizierungsoffizier Harvey Keitel ihn beim Verhör demütigt, ist schwer zu ertragen, beispielsweise die verächtliche, raffinierte Choreographie der Willkür, auf welchen Stuhl der vermeintliche "Bandleader" nun Platz nehmen darf.

Ich könnte noch ewig über diese mulmige Kollision der Kulturen schreiben, aber ich werde ohnehin schon zu lang und raffe fortan besser alles etwas. Nebenbei ist »Taking Sides« einer von Szabós stärksten Filmen über Architektur und Einschüchterung: Die Nazi-Monumentalität muss zurückerobert werden für eine demnächst demokratische Nutzung. Überhaupt ist seine filmische Besitznahme des Ambientes stets bezeichnend. In »Vater« verdient sich der Student Takó ein Zubrot als Statist. Auf der budapester Kettenbrücke wird eine Szene gedreht, in der Juden von den ungarischen Faschisten, den Pfeilkreuzlern, deportiert werden. Danach erzählt seine Freundin Anni ihm während eines Spaziergangs an der Donau von der Vernichtung ihrer Familie. Fast eine Liebesszene, die sich zuträgt an der Uferpromenade, von der die Pfeilkreuzler in den letzten Kriegswochen zahllose Juden in die Fluten stürzten. Szabó ist ein Filmemacher, für den es kein Ungefähr gibt. Alles ist präzise drapiert. Zum Schluss will ich Ihnen noch von den Kostümproben zu »Taking Sides« erzählen. Moritz Bleibtreu sollte eine Uniform tragen, die dem Regisseur im Prinzip gefiel, bei der ihn aber ein Detail störte. Die linke Schulterpartie war ein paar Millimeter breiter als die rechte. Bleibtreu hatte das beim Anpassen nicht bemerkt, aber Szabó fiel es sofort auf.

 

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