Ein Solitär

Ist es tatsächlich erst ein Jahr her, dass dieser Film bei uns im Kino lief? Mein Gefühl sagte mir, dass ich ihn in friedlichen, unschuldigeren Zeiten gesehen habe. Aber der Krieg verwirrt die Wahrnehmung der Zeit. Wie sich die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart auflöst, davon erzählt »Onoda – 10000 Nächte im Dschungel«, der heute Abend auf arte läuft und in der Mediathek noch bis zum 29. 8. abrufbar ist.

Das Dschungelkammerspiel des Franzosen Arthur Harari handelt von einem Mann, für den der Krieg 30 Jahre lang die Fliehkraft sein wird, der er seine Existenz unterwirft. Der Rekrut Hiroo Onoda besitzt eine Gabe, die selten und kostbar ist: Er kann überleben. Dieser Vorzug lässt sich im Japan des Jahres 1944 indes auch ins Negative wenden, wie es Hiroos enttäuschter Vater tut: Die Gabe disqualifiziert ihn für die ehrenvolle Aufgabe des Kamikaze-Piloten. Für die Laufbahn eines Nachrichtenoffiziers hingegen ist sie eine Empfehlung.

Onodas Vorgesetzter und Mentor Taniguchi erkennt das Potenzial des Rekruten sofort. Er weiht ihn in Täuschungsmanöver ein, bildet ihn in Guerillataktik aus und bereitet ihn auf einen Abnutzungskrieg vor, der keinen Ruhm verspricht. Auf der philippinischen Insel Lubang, 3000 Kilometer von Tokio entfernt, soll er ausharren und Widerstand gegen die anrückenden Amerikaner leisten. Eines schärft der Mentor seinem Schüler vor der Abreise noch ein: Sein Körper gehört der Nation, das Recht zu sterben ist ihm verweigert.

Onoda wird die Regeln der geheimen Kriegsführung gründlicher befolgen, als sein Lehrmeister es sich je hätte vorstellen können. Er ist der berühmteste unter den so genannten "Beharrlichen", die Kapitulation und Kriegsende ignorierten und bis in die 1970er Jahre auf ihren Posten im Dschungel aushielten. (siehe "Ein Geist, der zweimal wiederkehrt" vom 3. 6. 2022). Ein Bindeglied zwischen den Zeitebenen ist das alte, sehnsuchtsvolle Kasernenlied "Sado Okesa", das Onoda während seines Kriegs begleitete und ihn 1974 zu dem Zelt eines jungen Studenten lockt, der es sich zum unbedingten Ziel gesetzt hat, den berühmten Verschollenen zu finden. Onodas Rückkehr in die Zivilisation ist mit ihrer Begegnung freilich längst nicht besiegelt. Ergeben will er sich erst, wenn Taniguchi es befiehlt. Onoda hasst den Frieden. Als er endlich von ihm erfährt, trägt er mit Fassung, dass sein Leben eine Fiktion war. Vielleicht aber, diese Hoffnung hegt sein Regisseur, begreift er, dass jeder Krieg zu lang dauert.

Harari, der in diesem Kinoherbst bei uns als Co-Autor von Justine Triets »Anatomie eines Falls« in Erscheinung treten wird, ist fasziniert vom Motiv der Verblendung. Seine Charaktere erkennen spät, das ihr Handeln und ihre Existenz auf einem Irrtum beruhten. Das gilt bereits für sein verlockendes Regiedebüt »Diamant Noir« (2016), das von Erbe und Rache im Milieu der Diamantenhändler in Antwerpen handelt. Schon dies ein Film, der die traditionellen Zuständigkeiten des französischen Autorenkinos souverän hinter sich lässt, ein Neo-Noir aus dem Geist von Brian De Palma und James Gray. Mit seiner zweiten Regiearbeit sprengt er endgültig den Rahmen heimischer Produktionsbedingungen. Da er in Frankreich nicht genügend Fördermittel und Geldgeber für einen Film in japanischer Sprache fand, suchte sein Produzent Partner in Belgien, Deutschland, Italien, Kambodscha und eben Japan. Nach zehn Jahren Planung, drei Jahren angespannter Produktionsvorbereitung und 13 Drehwochen im kambodschanischem Dschungel ist Harari ein Film gelungen, der in jeder Hinsicht seinesgleichen sucht.

Er bekräftigt seine Autorenhandschrift, indem er das Thema der Vatersuche aufgreift, das schon »Diamant Noir« prägt. Onoda (von Yuja Endo und Kanji Tsuda in verschiedenen Lebensaltern mit gleicher Intensität verkörpert) zieht als guter Sohn in den Krieg. Selbstredend kommt Harari nicht umhin, die Fragen zu beantworten, die diese eigentümliche Lebensgeschichte aufdrängt: Wie konnte es dazu kommen? Und weshalb dauerte es so unvorstellbar lang? Sein Drehbuch tut dies mit einer wundersamen Selbstverständlichkeit, indem es den Zeitfluss einerseits verdickt und im Gegenzug unauffällige Ellipsen setzt. Onodas fanatischer Patriotismus (bei der Pressekonferenz nach seiner Heimkehr erklärte er schlicht, er habe seine Befehle ausgeführt) ist eine hinreichende, aber nicht erschöpfende Erklärung. Eine naheliegende Spur wäre der Wahn, dem er anheimgefallen sein könnte. Aber dieser Soldat begibt sich in keinen Taumel und sein Regisseur verweigert sich jedweder Metaphysik.

Vielmehr hat er einen trockenen, pragmatischen Abenteuerfilm gedreht. »Onoda« stellt sich in die literarische Tradition von Defoe, Stevenson und Conrad. Er erzählt ein Drama der robusten Körper und alltäglichen, listigen Verrichtungen. Die Furcht, sich auf einen filmischen Einhandsegler einlassen zu müssen, ist unbegründet. Hiroo hat drei findige Gefährten, sie bilden eine solide Männerwirtschaft, deren Anzahl sich indes im Lauf der Jahrzehnte verringert. Schon im Herbst 1945 hören sie, dass der Krieg vorüber sein soll. Das halten sie für amerikanische Propaganda. Suchtrupps aus der Heimat verscheuchen sie. Auch als ihnen Jahre später japanische Zeitungen zugespielt werden und ein Transistorradio in die Hände fällt, weigern sie sich, einer Täuschung auf den Leim zu gehen. Die Nachrichten aus der wirklichen Welt dechiffrieren sie konsequent als Fortsetzung des Weltkriegs. Sie spekulieren über neue asiatische Allianzen, die sie auf einer Weltkarte akribisch verzeichnen. Das Gerücht von einem Krieg in Indochina nehmen sie als Bestätigung. Das mit einem César ausgezeichnete Drehbuch versucht, eine bizarre, zugleich bezwingende Logik zu ergründen.

Hararis Inszenierung birst von überschwänglichem Vertrauen in die Möglichkeiten des Kinos. Sie hat eine fiebrige Verve, die sich am Konkreten reibt. Die Protagonisten passen sich der Natur mit immensem Einfallsreichtum an. Der Dschungel ist im Kino stets ein Ort der Bestimmung, an den man nicht unschuldig kommt und mit sich selbst konfrontiert wird. Für Hararis Figuren jedoch wird er zu einem alltäglichen Lebensraum, der sich kartografieren und beherrschen lässt. Darin bewegen sie sich wie Geister, der Vergangenheit und ihrer selbst. Harari filmt sie als etwas, das nur das Kino zeigen kann: Unsichtbare.

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