Infernalisches Pensum

Für Sarah Polley müssen die Dreharbeiten zu »Die Abenteuer des Baron Münchhausen« eine Tortur gewesen sein. Die damals neunjährige Schauspielerin fürchtete um Leib und Leben, kam als Notfall ins Krankenhaus und und war mehrere Tage lang taub. Terry Gilliam ließ seine Hauptdarstellerin über die Klinge springen. Ich bin nicht sicher, ob es ihr mit Naomi Kawase besser ergangen wäre.

Die Kanadierin, die seit dem Fiasko des Münchhausenfilms eine glänzende Karriere in Filmen von Atom Egoyan, Isabel Coixet, David Cronenberg und anderen gemacht hat, arbeitet dieses Kindheitstrauma in ihrem Memoir "Run towards danger" auf. Im „Guardian“ ist als Vorabdruck ein Kapitel erschienen, das es in sich hat. (https://www.theguardian.com/books/2022/jun/12/sarah-polley-terry-gilliam-run-towards-danger-baron-munchausen-interview) Polley geht hart mit Gilliam ins Gericht, der sich offenbar keinen Deut um ihre Sicherheit scherte. Zuvor hatte sie ihn als Enfant Terrible im Regiestuhl verehrt. Bei den Dreharbeiten jedoch lernte sie ihn als einen rücksichtslos monomanischen Träumer kennen, der in der gleichen Welt "ohne Logik und Vernunft" lebte wie der Lügenbaron. Dass das von ihm angerichtete Chaos durchaus System hatte und er sie offenen Auges durchs Feuer gehen ließ, begriff sie indes erst später.

Man mag es noch hinnehmen, wenn John Milius seinen Star Arnold Schwarzenegger bei »Conan, der Barbar« schindet und mit dem nicht ganz kapitelfesten Nietzsche-Zitat „Der Schmerz vergeht, die Kunst bleibt“ tröstet. Das ist Heimtücke auf Augenhöhe. Am Set von »Münchhausen« waren die Verältnisse anders. Polley jedoch sammelt akribisch Indizien für Gilliams völlig verantwortungsloses Verhalten auf dem Set. Noch spannender als die Schilderung dieses Inferno finde ich den Prozess der Bewusstwerdung, der in den Jahrzehnten danach stattfindet. Sie zieht Gilliam per Email zur Rechenschaft, der sich in seiner Antwort jovial und ahnungslos gibt. Der Spezialeffekt-Künstler des Films hingegen übt tränenreich Reue, was sie in einer wahrhaft bewegenden Passage dieses packenden Textes rekapituliert.

An dessen Ende kann sie nicht umhin, generell die obligatorische Tirade gegen den sprichwörtlichen alten, weißen Mann anzustimmen. Sie verfügt eigentlich über ein feineres argumentatives Besteck als das Klischee. Andererseits muss man nicht bedauern, dass er aktuell vom Sockel des Geniekults gestoßen wird. Es scheint momentan so, als müsse sich die Welt nicht mehr um die einzelne Künstlerpersönlichkeit drehen, sondern diese müsse sich gegenüber der Masse legitimieren. Im Vorfeld der diesjährigen documenta ließ sich die Kunstwelt noch von der Aussicht beflügeln, das Kollektiv sei, in der Instanz des Kurators wie als Prinzip der Präsentation, eine korrekte Alternative. Über das böse Erwachen, die derzeitige Antisemitismus- Debatte können Sie anderswo genug lesen. 

Unwohlsein bereitete mir beim documenta-Konzept der Eindruck, es sei eine ideologische Setzung (so begrüßenswert auch immer diese sein mag), die sich selbst genügt - und über die Kunst könne man sich schon danach Gedanken machen. Welche Konsequenzen hätte dieses Paradigma für das Kino? Ich hadere zwar seit jeher mit der romantischen Idee des Regisseurs als alleinigem Urheber eines Films. Mich faszinieren Idee und Praxis der Gemeinschaftskunst, der collaborative art, und ich bin überzeugt, dass die Regie das am meisten überschätzte Metier in dieser Branche ist. Dennoch mache ich sie gern (nicht nur, weil deshalb das Schreiben leichter und flüssiger ist) namhaft als mein Gegenüber. Als Zuschauer bedarf ich einer persönlichen, individuellen Mitteilung.

Sarah Polley ist längst selbst eine exzellente Regisseurin und Drehbuchautorin. Vielleicht beherzigt sie das Motto "filming well is the best revenge", jedenfalls geben »An ihrer Seite« oder »Stories we tell« Zeugnis von einer besonderen, eigenen Empfindsamkeit. Dasselbe ließe sich auch über die Filme der Japanerin Naomi Kawase (»Kirschblüten und rote Bohnen«) sagen, sie seit mehr als zwei Jahrzehnten zu den Abonnenten in Cannes zählt. Sie steht daheim jedoch gerade im Zentrum heftiger Kontroversen. Nicht nur ihr zweiteiliger Dokumentarfilm über die letztjährigen Olympischen Spiele löst Kontroversen aus. Er sei zu patriotisch ausgefallen, denunziere die Proteste gegen die Veranstaltung und belege ihre anrüchige Nähe zur nationalistischen Regierungspartei. Dass sie zur Präsidentin respektive Beraterin der für 2025 geplanten Weltausstellung in Osaka ernannt wurde, unterstreiche dies noch. In diesem Kontext maßgeblicher sind die Vorwürfe, die Darsteller und weitere Mitwirkende in der Wochenzeitung "Shukan Bunshun" gegen Kawase erheben. Ihnen zufolge ist die Regisseurin von »Die Blüte des Einklangs« keineswegs ein so friedfertiger Mensch, wie ihre Filme vermuten lassen. Shigeki Uda, der Hauptdarsteller von »Der Wald der Trauer« beschreibt sie als eine tyrannische, harte Zuchtmeisterin, die zahllose Takes verlange und nicht begründe, weshalb. (Letzteres hört sich für mich wie eine relativ unbedenkliche Beschreibung ihres Berufes an.) Nie würde sie ihren Teams danken, fährt er fort, und stets alle Ehre für sich beanspruchen.

In einem zweiten Artikel fährt die Zeitung noch größere Geschütze auf. Namentlich genannte Zeugen berichten von Wutausbrüchen am Set. Im Oktober 2015 soll sie einen Mitarbeiter geschlagen und ihm bis in dessen Büro hinterhergejagt sein. Das übrige Personal floh angeblich erschrocken in ein anderes Stockwerk. Bei ihrer Rückkehr sah es, wie das Opfer ihrer mutmaßlichen Attacke seine Sachen gepackt habe; fortan ward er nie mehr in der Produktionsfirma gesehen. Die Quelle ist freilich nicht unbedingt für die Zuverlässigkeit ihrer Recherchen bekannt. Falls "Shukan Bunshun" diesmal gründlicher gearbeitet haben sollte, zeigt sich ein erschütterndes Bild. Dann ließen sich die zwei Vorwürfe (staatstragend und tyrannisch) zu einer Lehre bündeln. Es ist gefährlich, wenn RegisseurInnen sich für eine unangreifbare Instanz  halten.

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