Hausmusik

Zu einer waschechten Jam Session kommt es nicht. Die Copleros musizieren wenig miteinander, ihre Teilhabe an den Liedern der anderen besteht vor allem im aufmerksamen, emphatischen Zuhören am Lagerfeuer. Sagen wir es einmal so: Ihre Geselligkeit erinnert an "Sing meinen Song", nur ohne die Heuchelei.

Lucretia Martels Kurzfilm »Terminal North« (»Terminal Norte« im Original) setzt eine spontane Gemeinschaft der Solitäre in Szene. Man weiß nicht, wie häufig sich sonst ihre Wege kreuzen, nun treffen sie sich auf Geheiß der Regisseurin des Nachts im Wald: eine Verabredung, die Keine und Keiner verpassen will. Die Sängerin Julieta Laso führt als Zeremonienmeister durch den Abend, sie lockt die Kamera so charmant und gebieterisch heran wie einst Anton Walbrook in »Der Reigen«. Vergnügt stellt sie die Künstlerinnen vor: Zwei sind Nomadinnen, die Noise spielen, eine andere macht die besten Teigtaschen, Lorena Carpanchy ist die erste trans Coplera in der Region. Das Programm ist vielgestaltig, aber nicht notwendig eklektisch. Unterschiedliche Stimmen und Instrumente kommen zu Gehör, aber es entsteht kein Stilmix dabei, sondern eher eine Erkundung der Gemeinsamkeiten. Das Ganze findet statt in Martels Heimatprovinz Salta und dauert leider nur 20 Filmminuten.

„Terminal North“ lief au der diesjährigen Berlinale und ist aktuell Teil des Musikschwerpunkts "Turn it up" bei MUBI, in dem unter anderen "PJ Harvey – A Dog calles money" sowie "This much I know to be true", Andrew Dominicks zweiter Film mit Nick Cave laufen. Auch „Songs for Drella“ und „For Lucio“, die mich bereits an dieser Stelle beschäftigten, gehören noch dazu. "Copla" übersetzt mein Wörterbuch mit "Bänkelgesang", was zwar wenig zeitgenössisch klingt, aber im Sinne der Moritat durchaus passt: Hier werden Nachrichten aus der (eigenen) Welt vorgetragen. Sie singen praktisch alle in der ersten Person Einzahl. Das Wunschkonzert ist eine kleine tour d'horizon durch die verschiedenen Traditionen volkstümlicher, argentinischer Musik. Es kommt ohne Tango aus, dafür lernt man dessen frühe Form, die Milonga kennen. Gleich zu Beginn rappt Biyami über weibliche Ermächtigung. Das Programm dieser Open-Air-Hausmusik steht im Zeichen von Freiheit und Individualität.

Lucretia Martels erster Film seit »Zama« von 2017 ist in Zeiten der Pandemie entstanden, wahrscheinlich während eines Lockdowns, dessen Einschränkungen er spielend überwindet. Die Nomadinnen beispielsweise singen vorzugsweise im Auto. Nicht nur der Raum, auch die Zeit steht zur filmischen Disposition: Martel verwandelt die Anmutung der heimischen Szenerie mal mit Zeitlupe, vor allem aber durch Zeitraffer. Die Landschaft im Norden Argentiniens ist also fast ebenso wichtig wie die Musik. In Venedig läuft bald ihr nächster Kurzfilm »Camarera de piso« (Dienstmädchen), in dem sie eine Beziehung zwischen zeitgenössschem Tanz und ihrer eigenen Filmsprache herstellen will. Wenn ich die Inhaltsangabe aus dem Spanischen korrekt übersetze, ist auch dies ein Film über lineare und nicht-lineare Zeit.

Ich vermute, diese zweite Fingerübung verbindet sich thematisch mit der ersten, denn das Dienstmädchen scheint, wie die ProtagonistInnen von »Terminal North«, eine zweite Agenda zu haben: Einige der KünstlerInnen berichten von der bürgerlichen Existenz, die sie auch führen, etwa als Bauern oder Händler auf dem Markt. Die Copla ist eine eminent sinnliche, also lebensnahe Disziplin. Natürlich geht es in den Texten auch um Liebe und Sehnsucht, über den oder die Abwesende, sowie um die Vorzüge, zwei Ehemänner zu haben: einen für ab und zu und einen für jeden Tag.

Es ist eine widerspenstige, eigensinnige und durchbrochene Folklore, die Martel präsentiert. Die Formen sind überliefert, aber die Inhalte künden von modernen Lebensentwürfen. Gleichviel, welche Geschichten ihre ProtagonistInnen erzählen, stets gewinnt man eine schöne Gewissheit: Sie sind den Verhältnissen nicht ausgeliefert.

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