Sorry-grateful

Es wird höchste Zeit, anzufangen. Die Darsteller brechen auf; ihr Tatendrang ist nicht zu bändigen. Sie marschieren, vom Chor angespornt, stracks in die Handlung hinein. Die Dringlichkeit ist unbezähmbar. Adam Driver schwingt sich auf sein Motorrad, er braust seinem Auftritt als Stand-up-Comedian entgegen. Marion Cotillard nimmt in einer Limousine Platz, die sie zum Opernhaus bringen wird. Man ahnt noch nichts, aber dieses Musical steuert voller Euphorie auf den Abgrund zu.

Die Musik, die den Anfang von Leos Carax' »Annette« vorantreibt, stammt von den Sparks. Aber seine Rhetorik von Appell und Reaktion, sein szenisches Genie verdankt dieser Auftakt eindeutig Stephen Sondheim. Die Interaktion von Solisten und Chor, von Individuum und Gemeinschaft nimmt der Broadwaykomponist bereits Jahrzehnte vorher in »Company« vorweg. Eigentlich wollte ich heute auf die Carax-Retro hinweisen, die am Abend in Berliner Arsenal beginnt. Aber Sondheims Tod hat das vereitelt. Carax folgt morgen. Er wird das verkraften, immerhin dankt er Sondheim im Abspann seines Films. Heute musste ich bei ihm bleiben. Den Morgen habe ich damit verbracht, mir noch einmal die Originalaufnahme der Broadway-Besetzung seines Musicals anzuhören. Auf Cassette, so lange reicht meine Begeisterung schon zurück. 

Sein Tod mit 91 Jahren kam plötzlich, vielleicht unerwartet. In dem Alter, das der Künstler erreicht hatte, tritt die Trauer ein Stück weit hinter die Dankbarkeit für ein Lebenswerk zurück. Am Vorabend hatte er noch mit Freunden Thanksgiving gefeiert. Und vor ein paar Wochen gab er noch Interviews, in denen er voller Enthusiasmus über die sich zur Neuverfilmung von »West Side Story« sprach: Spielberg und Drehbuchautor Tony Kushner hätten einen ganz eigenen, aktuellen, vitalen Zugang gefunden. In ein paar Tagen können wir überprüfen, ob das reine Höflichkeit war. Der Trailer lässt erahnen, dass dies nicht so ist.

Ich kann mir vorstellen, dass er ein zwiegespaltenes Verhältnis zu diesem Musical hatte. Es ist nach wie vor seine berühmteste Arbeit, wenngleich wenngleich er "nur" Textdichter war (Alain Resnais wusste es jedoch besser, siehe "Vom Glück, in einen wurmstichigen Apfel zu beißen" vom 21. 3. letzten Jahres). Für ihm musste das alles eigentlich auch weit, weit zurückliegen. Ein Motto, das er flexibel befolgte, lautete "I never do anything twice."

Das war, auch in der Einschränkung, ein Segen für ihn und sein Publikum. Das Ungekannte, Unerhörte war sein großer Beitrag zur Geschichte des Musicals. Heute mutet es merkwürdig an, ihn als Revolutionär, als musikalischen Bilderstürmer zu bezeichnen. Er hat viele Wege geebnet, indem er die Konventionen seines Genres aus den Angeln hob. Aber gehört eben längst auch zur Folklore. Mit Ihm ging das Great American Songbook in die Verlängerung der Moderne. Die Entzauberung des Romantischen gab es schon vorher, bei Cole Porter allemal und ebenso bei Lorenz Hart, dem ersten Textdichter von Richard Rodgers, der die Widersprüchlichkeit der Emotionen mit raffinierter Geschmeidigkeit austarierte. Sondheim steigerte das Hochgefühl der Traurigkeit zu einem klangvollen Paradoxon; "Sorry-grateful" aus »Company« bringt diese Doppeldeutigkeit als Songtitel am eindeutigsten auf den Punkt. Kurioserweiser ist er jedoch bei Harts Nachfolger als Partner von Rodgers, dem treuherzigen Oscar Hammerstein II, in die Lehre gegangen. Ich glaube, sie waren verwandt. Ambivalenz aller Orten, damit konnte er und konnte man aber gut leben.

Sondheim hat mir einmal einen Brief geschrieben. Er ist mir teuer, aber einrahmen muss ich ihn nicht. Es war die Absage auf eine Interviewanfrage. Obwohl er die Titelmelodie von »The Bad and the Beautiful« (Stadt der Illusionen) sehr mochte, hatte er nicht das Gefühl, etwas Wesentliches zu der TV-Dokumentation über den Komponisten David Raksin, die ich vorbereitete, beitragen zu können. Ich war beeindruckt, dass er sich die Zeit genommen hatte, mir handschriftlich zu antworten. Ohnehin hatte ich genug Gesprächspartner für die Sendung: Elmer Bernstein, Henry Mancini, André Previn, Philippe Sarde und John Williams waren bereit, über ihren Kollegen zu sprechen. Aber David, der vor wenigen Tagen bereits an dieser Stelle auftauchte, war enttäuscht. Bei Sondheim gerät man unweigerlich an einen Punkt, wo es persönlich wird.

Da mein Eintrag vom März letzten Jahres ein (wenn auch zaghafter) Rundumschlag durch sein Werk war, will ich mich heute auf »Company« konzentrieren. Das hat mindestens zwei Gründe. Bis das Stück 1970 herauskam, hatten alle Musicals einen Plot; Sondheim und sein Stammregisseur Harold Prince versuchten herauszufinden, ob es auch ohne ginge. Es ging. Fortan verzichteten sie auf eine lineare Erzählung in den Libretti, verdichteten ihre Themen vielmehr in Mosaiken aus Plot-Elementen, Vignetten und Songs.

In »Company« geht der eingefleischte Junggeselle Bobby geht auf einer Party durch den Spießrutenlauf des Wohlwollens befreundeter, verheirateter Paare. Ich glaube, es war das erste Musical, in dem der Komponist rückhaltlos von sich erzählte. Er sei nie wirklich verliebt gewesen, gestand er einmal dem Magazin "Time". Das ist Jahrzehnte her, und ich wünsche ihm heute, es gilt nicht mehr. Den Vorbehalt gegenüber der Liebe, der großen erst recht, gab es in seinem Werk natürlich schon früher – in der »West Side Story« ist er tragisch formuliert, was auch insofern interessant ist, dass praktisch alle federführenden Beteiligten schwul waren, der Librettist Arthur Laurents, der Komponist Leonard Bernstein (im Zweifelsfall bi-sexuell), der Choreograph Jerome Robbins, auch Sondheim - und selbstverständlich auch danach. Aber in „Company“ ist er lebhaft zeitgenössisch, nicht gefiltert durch die Verortung in fernen Epochen, Milieus oder Mythologien. Sondheim sprach von einem Jetzt der Desillusionierung, das danach aktuell bleiben konnte, bis heute. Aber die Entzauberung war nicht unwiderruflich, sie war kein Dogma, sondern ließ triftige Einwände zu.

Denn das Stück ist vehement vielstimmig. Davon gibt es ein atemraubendes filmisches Zeugnis: D.A. Pennebaker hat die Plattenaufnahme mit der Broadway-Besetzung dokumentiert. "Original Cast Album: Company" war als die Pilotfolge einer ganzen Reihe solcher einstündiger Dokumentationen fürs Fernsehen geplant, blieb dann aber doch ein heroischer Solitär. Die Criterion Collection hat Pennebakers Film unlängst auf Blu-ray veröffentlicht (auch in England, weshalb es keine Probleme mit dem Ländercode gibt), aber auch diesseits dieser magistralen Edition können Sie den Film auf Youtube.com sehen.

Die Aufnahmen fangen mitten am Tag an und dauern bis tief in die Nacht. Man erlebt zwar Sondheim in seinem Element, als Fisch im Wasser – in einem frappierenden Moment hört er heraus, dass eine Chorsängerin im Hintergrund eine Note zu tief singt -, aber es geht letztlich um die Gemeinschaftsarbeit und das Wohl und Wehe des Perfektionismus. Die Nerven sind bei allen zum Zerreißen gespannt. Sondheims Lieder sind eben nicht einfach zu singen, auch am Tag nach der geglückten Premiere noch nicht. Zur tour de force wird die Aufnahme, als Elaine Stritch ihre Nummer »The Ladies who lunch« einfach nicht hinbekommt. Sie bleibt als Letzte zurück im Studio. Derweil wird es immer später, sie hat zu viel getrunken, aber legt sich wahnsinnig ins Zeug. Der Produzent ist unnachgiebig. Stritch ist großartig und scheitert doch immer wieder. Ein Martyrium, das auch die Herzen zerreißt. So entsteht Kunst.

Seine Definition dafür war: Jedes Mal ist es so, als quetschte man Zahnpasta aus eine leeren Tube. Also eine Agonie. Bei Pennebaker fiebert man mit ihnen allen. Sie machen es einander schwer, weil sie das lieben, was sie tun. Aufgeben gilt nicht. Ein flüchtiger Moment muss für die Nachwelt festgehalten werden, in der absolut bestmöglichen Form. Schwer vorstellbar, dass eine ähnliche Magie entstanden wäre, wenn Pennebaker noch weitere Original Cast Albums dokumentarisch protokolliert hätte. Das ging so nur bei diesem Komponisten. Ohne all das zu wissen, habe ich das Ergebnis dutzende Male gehört und immer das Gefühl gehabt, dass Sondheim direkt zu mir spricht. Und und zu einer Gemeinde der Eingeweihten, die immer größer wird. Schauen Sie Pennebakers Film, wenn Sie dazu gehören möchten.

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