Nicht nur Dame, sondern Schach

Wer heute früh im Netz die ersten Reaktionen auf die Oscarverleihung verfolgte, war mit einem Bild einhelliger Vielfalt konfrontiert. Das hatte einerseits mit dem erklärten Ziel der Veranstaltung zu tun. Gewiss, einigen Beobachtern waren die Oscars noch nicht divers genug. Aber im Gegenzug gab es immerhin niemanden, dem sie zu divers gewesen wären.

Auch der Preisregen nach Gießkannenprinzip trug zu diesem Eindruck bei. Dass kein Hegemonie-Prinzip herrschte, muss allerdings auch nicht bedeuten, dass es keinen klaren Sieger gegeben hätte. Auch drei Trophäen können ein stolzer Triumph sein. Das Votum der Academy-Mitglieder hat in den letzten Jahren den Unterschied zwischen Favorit und Dominanz entdeckt. Das ist ein Fortschritt, man muss sich nicht zurücksehnen nach den Zeiten, als großspurige Prestigefilme gleich zweistellige Oscar-Ehren einfuhren. Wie man die Preisvergabe letztlich einschätzte, hing natürlich auch mit individuellen oder gar nationalen Erwartungen zusammen. Während die chinesische Zensur keine ungetrübte Freude über Chloé Zhaos Sieg aufkommen ließ, konnten die Leser des Internetauftritts von »Le Figaro« den Eindruck gewinnen, Frankreich sei der große Sieger dieses Abends gewesen. Eigentlich zu lächerlich, um näher darauf einzugehen, aber die Genugtuung über einen halben Drehbuchoscar, die Mitwirkung an dem prämierten Sounddesign und die Produktion des besten kurzen Dokumentarfilms sind dann vielleicht doch bezeichnend.

Ob sich Netflix mit insgesamt sieben Auszeichnungen als der heimliche Sieger des Abends fühlen darf, ist da schon eher der Frage wert. Dass die hohe Anzahl der Nominierungen »Mank« nicht zwangsläufig zum Favoriten machten, war schon im Hinblick auf die identitätspolitische Ambition der diesjährigen Verleihung klar. Aber sieben von drei Dutzend Anwärtern in Treffer umzuwidmen, ist eine Quote, von der jeder Lottospieler nur träumen kann. Selbstverständlich sind diese Zahlenspieler in diesem Jahrgang insbesondere Corona geschuldet. Aber sie könnten, mit Abstrichen, zukunftsweisend sein. Eindrucksvoll sind sie in jedem Fall. Aus dem einstigen Störenfried und Eindringling im Hollywoodsystem ist ein veritabler Player geworden. In den vorangegangenen Jahren waren die Hoffnungen noch zweistellig: vier Nominierungen, darunter drei für »Roma«, in 2019; immerhin zwei Sieger in 2020 (Laura Dern als Beste Nebendarstellerin in »Marriage Story« sowie Bester Dokumentarfilm). Die Streamingplattform ist kein Paria mehr, sondern wird inzwischen als vollgültiges Studio betrachtet.

Welche Auswirkung der Oscarsegen auf die Abonnentenzahlen haben könnte, mag eine knifflige Frage für Analysten sein. Aber in dem neuen Ökosystem strengt sich Netflix mächtig an, die Rolle des Platzhirsches zu behaupten. Die Konkurrenz schläft nicht, Disney+ sowieso nicht, sogar Warners' HBO Max legt langsam zu. Aber obwohl Netflix noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt, hält der Streamingdienst an seiner Strategie der tiefen Taschen fest. Gerade hat er einen Milliardendeal mit Sony abgeschlossen, dem einzigen Hollywoodmajor ohne eigene Plattform, wobei auch Disney sich Anteile an der Auswertung von dessen Portfolio der nächsten Jahre gesichert hat. Noch tollkühner scheint mir der Vertrag, den Netflix jüngst in Sachen »Knives Out« geschlossen hat. Rian Johnsons Überraschungserfolg spielte weltweit 311 Millionen Dollar ein. Für die Rechte an den nächsten zwei Fortsetzungen will der Streamingdienst mit ca. 469 Millionen das Anderthalbfache zahlen. Wie sich eine solche Summe rentieren soll, kann niemand genau sagen. Wichtiger ist im Augenblick vielleicht die Geste: Selbstverständlich zahlt Netflix zu viel, meint ein Analyst, aber die spielen Schach, während alle Welt nur Dame spielt. Der Großteil des Geldes wird gar nicht in die Filme fließen (deren Budget mindestens so hoch sein soll wie das des ersten Films: schlappe 40 Millionen), vielmehr werden Johnson, sein Co-Produzent Ram Bergman sowie der Star Daniel Craig jeweils coole 100 Millionen an dem Deal verdienen. Johnson und Bergman haben künstlerisch freie Hand.

Dahinter steht wohl die Hoffnung, ein Franchise zu begründen, das sich zu einer Fernsehserie etc. ausbauen lässt. Netflix sucht momentan danach. Aus ihrem Hit »Bird Box« mit Sandra Bullock soll eines werden. Eine Fortsetzung ist in Arbeit, ebenso wie eine spanischsprachige Version. Zack Snyder arbeitet an einer Zombie-Saga namens »Army of the Dead«, zu der auch ein Prequel von und mit Matthias Schweighöfer geplant ist. Die Zuversicht in »Knives Out« fasziniert mich, muss ich sagen. Craigs Benoit Blanc ist ja ein merkwürdiger Detektiv. Man unterschätzt ihn leicht, erstmal scheinen ihm die Bösewichte immer einen Schritt voraus zu sein. Auf den ersten Blick kein Hercule Poirot, der alles durchschaut. Seine Souveränität kam unverhofft im ersten Film. Das war womöglich in kluges Täuschungsmanöver. Oder nur ein smartes? Ist mit ihm zu rechnen? Ich bin gespannt. Die Dreharbeiten zu »Knives Out II« sollen im Sommer in Griechenland beginnen. Das klingt nach dem Erfolgsmodell von Agatha Christie: ein Whodunit an exotischem Schauplatz, ein hochkarätiges Ensemble an Verdächtigen etc. Wen Netflix hier angreift, ist klar: Kenneth Branaghs Wiederbelebung von Poirot. Der Tod auf dem Nil liegt derweil auf Eis, dank Corona und der Skandale um Armie Hammer. Und die Lösung des Rätsels kennt man schon. Aber Rian Johnson muss sich wohl trotzdem eine Menge einfallen lassen, um seine 100 Millionen zu verdienen. Wird er Dame Agathas Phantasie übertrumpfen, um Netflix' Träume zu verwirklichen?

Meinung zum Thema

Kommentare

Sehr geehrter Herr Midding,

zu Ihrer Aussage: "Aber obwohl Netflix noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt (...)"

Netflix hat für das erste Quartal 2021 einen Gewinn (net income) von 1,7 Mrd. Dollar in seiner Bilanz ausgewiesen. Allenfalls könnte man sagen, dass Netflix nach wie vor einen zweistelligen Mrd.-Dollar-Betrag an Schulden hat; allerdings wurde der Schuldenberg zuletzt reduziert und ist vom Unternehmen dauerhaft auf zehn bis 15 Mrd. Dollar angelegt.

Mehr hier: https://s22.q4cdn.com/959853165/files/doc_financials/2021/q1/FINAL-Q1-21-Shareholder-Letter.pdf

Mit besten Grüßen, J. Rumbucher

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