Fährtensuche

Ein Mehrwert von Filmen, den ich relativ früh in meinem cinéphilen Leben schätzen lernte, besteht in ihrem Anspielungsreichtum. Sie führen anderswo hin. Sie ermutigen zur Nachforschung, legen Spuren aus zu den anderen Künsten oder historischen Situationen.

Wir alle kennen diesen Effekt. Durch Truffaut entdeckte ich beispielsweise die französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Oder denken Sie an all die Fernsehzuschauer, die nach der Breaking Bad- Folge »Ozymandias« unbedingt wissen wollten, was es mit dem Sonnett von Shelley auf sich hat, aus dem kurz zuvor auch Woody Allen in »To Rome with Love« zitiert. Faszinierend, in welch unterschiedliche Richtungen uns die Neugiermaschine Kino leiten kann, und wie endlos. Fast schon ein Reflex.

Als ich vor einigen Tagen auf Netflix das taiwanesische Familiendrama »A Sun« sah (über das ich fürs nächste Heft von epd-Film schreiben durfte), wurde ich automatisch hellhörig, als der ältere Sohn A-Ho in der Schule mit seinem Lehrer in Streit gerät. Er entzündet sich an einem Zitat, das von einem gewissen Sima Guang stammt. Ich konnte zuerst nicht recht identifizieren, ob die Szene im Literatur-, Philosophie- oder Religionsunterricht spielt. A-Ho wird der Klasse verwiesen. Einige Filmminuten später spricht ihn eine Klassenkameradin an, die er zur Bushaltestelle begleitet und der er eine Geschichte von bzw. um Sima Guang erzählt. Sie ist so spannend, dass sie den Bus fahren lässt, um das Ende zu hören. Tatsächlich ist sie, wie eine kurze Suchmaschinenrecherche ergibt, in China sehr berühmt und wird als moralische Fabel hoch geschätzt. Als Kind (sein Alter schwankt in den gefundenen Nacherzählungen zwischen sieben und neun Jahren) spielt Sima Guang mit einigen Freunden und entdeckt, dass ein Kamerad in ein großes Wasserfass aus Keramik gefallen ist. Die Freunde reagieren mit Ratlosigkeit, aber Sima Guang behält einen kühlen Kopf. Er schleudert einen Stein gegen den Bottich, der daraufhin zerbricht. In anderen Varianten wirft er den Stein erst an eine zu niedrige Stelle, aber mit einem zweiten Wurf kann er den Jungen vor dem Ertrinken retten. Regisseur Mong-Hong Chung illustriert die Erzählung mit einer Animationsszene, was ein schöner Überraschungseffekt ist. Man darf dergleichen heute nicht allein Dokumentarfilmen überlassen! Allerdings erzählt A-Ho die Geschichte etwas anders, als sie überliefert wird.

Unterdessen werden Sie wahrscheinlich den Wikipedia-Eintrag zu Sima Guang studiert und erfahren haben, dass er ein Gelehrter, Poet und Politiker der Song-Dynastie war und als Vater der chinesischen Geschichtsschreibung gilt. In A-Hos Erzählung ist es Sima Guang selbst, der im Wassertank gefangen ist und sich selbst befreit. Damit ist das Gleichnis für den Film jedoch noch nicht erledigt. A-Ho ist die Lichtgestalt der Filmfamilie, auf die der Vater all seine Hoffnungen setzt: Er soll Arzt werden. Sein jüngerer Bruder A-Hao, der auf eingangs auf die schiefe Bahn gerät, stand stets in seinem Schatten. Ich nehme an, der Regisseur kalkuliert insgeheim mit dem Gleichklang des internationalen Filmtitels mit »A Son«. Mit dem Titel selbst hat es eine metaphorische Bewandtnis. A-Ho fragt bei einem Spaziergang seine Schulkameradin, was „the fairest thing in the world“ sei und gibt selbst die Antwort: die Sonne. Die Doppeldeutigkeit von hell und gerecht ist bemerkenswert. Nirgendwo könne man ihren Strahlen entkommen, nur in dem Wassertank.

A-Hos Schicksal nimmt eine dramatische Wendung; er kann sich selbst nicht retten. Dass er die Fabel vom Wassertank umdeutet, entspricht der Erzählstrategie des Films, in dem die Situationen sich selten so entwickeln, wie man es erwartet. Was jedoch sagt diese Verschiebung über A-Ho aus? Mich beeindruckt an seiner Zeichnung, dass er sich selbst nicht nur kennt – was bereits ein Privileg ist, über wie viele Filmfiguren lässt sich das üblicherweise schon sagen? Er ist in der Lage, sich selbst zu verstehen, ja zu interpretieren. (Auch sein Bruder ist im Gegenzug zu Erkenntnis fähig, er nutzt letztlich die Sprache, um sich im brutalen Gefängnisalltag zu behaupten) Ein zweifacher Mehrwert: Mong-Hong Chungs Film führt auch zu sich selbst zurück.

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