Elementare Entgrenzung

Das Schöne an den Filmen von Abbas Kiorastami sei nicht ihre Geschichte, stellte sein mexikanischer Kollege Carlos Reygadas einmal fest. Nein, es beruhe auf der Anmuteines fahrenden Autos und des Geräusches, das dabei entsteht.

Was Mani Haghighi, der ehemalige Assistent des iranischen Regisseurs. über ihn zu sagen hat, kann man bald im Berliner Arsenal erfahren, wo er am 20. und 24. Oktober in Filme seines Meisters einführt. Die Veranstaltungen dürften zu den Höhepunkten der großen Retrospektive zählen, die noch bis Ende des Monats läuft. Fabian Tietke hat vor einigen Tagen einen sehr schönen Artikel zu ihr in der „tageszeitung“ veröffentlicht.

Was wiederum Jean-Luc Godard über ihn dachte, ist der Pressemitteilung von „LaCinethek“ zu entnehmen, der Streamingplattform, die von Fimemachern kuratiert wird- Sie präsentiert die ab heute neun Arbeiten des Regisseurs in restaurierter Fassung. „Der Film beginnt mit D.W. Griffith“, wird Godard darin zitiert, „und endet mit Abbas Kiarostami.“ Diese Einschätzung – sie wird schon als Lob gemeint sein – ist auch insofern bemerkenswert, als der chronisch missgünstige Franzose zu dem Zeitpunkt, als der Iraner ins Bewusstsein der cinéphilen Öffentlichkeit trat, nur höchst ungern ein gutes Wort über zeitgenössische Kollegen Zeitgenossen verlor. Zweifellos bedeutet sie einen geschmeidigen Widerruf, denn Godard hatte ja bereits 1967 im Abspann von „Weekend“ seinen persönlichen Schlussstrich unter das Kino gesetzt. Dass er diese Ehre neuerlich Kiarostami zuteil werden ließ, spricht für die epochale Lebendigkeit seines Oeuvres.

Ihr gerecht zu werden, würde mehrere Einträge verlangen. Deshalb fasse ich mich diesmal kurz und halte mich an Reygadas. Denn in der Tat war Kiarostami unter den Gegenwartsregisseuren (zu denen man ihn auch fünf Jahre sch seinem Tod noch immer zählen muss) der überzeugteste Automobilist. In „Der Geschmack der Kirsche“ und „Der Wind wird uns tragen“ verspüren seine Figuren beim Fahren ein stärkeres Selbstgefühl. Die Perspektive des Fahrersitzes schärft ihren Blick auf die Welt; selbst wenn die Exkursionen das Präludium eines Selbstmordes sind. Die anderen Varianten der Mobilität will ich nicht unterschlagen, das vollbesetzte Moped in „Der Wind wird uns tragen“ etwa, oder, beispielhaft für die zahlreichen rennenden Kinder in seinem Werk, die Suche des Jungen mit dem vertauschten Schulheft in „Wo ist das Haus meines Freundes?“. Aber „10“ spielt sogar vollständig in einem Kleinwagen, den Kiarostami mithilfe zweier agiler Digitalkameras als einen begrenzten Freiraum erkundete, in dem er durch deklinierte, was es hieß, im Teheran des Jahres 2002 eine Frau zu sein. Die Macht der Männer scheint aus diesem Refugium verbannt, aber sie ist es nur vorbehaltlich.

Seine Kunstfertigkeit erfüllt sich gleichermaßen in der Präsentation wie im Vorenthalten: eine ästhetische Rigorosität, die sich ohne Mühe deuten lässt als Reflex der Lebenssituation seiner Figuren. Die Außenwelt darf freilich poetisch intervenieren, darf hineinwirken in diese Kapseln des Privaten. Seine schauenden Figuren zeichnet eine Bereitschaft aus, sich bereichern und verändern zu lassen durch Begegnungen. Diesen Prozess darf man getrost als Metapher für die Methode Kiarostami betrachten. Der Regisseur, den man kaum je ohne Sonnenbrille sah, löst sich mit jedem Film aus dem Korsett eines etwaigen Vorhabens, weil ihm die Wirklichkeit ihre eigenen Gesetze auferlegt. Der Blick des gelernten Malers – er entwickelte sich überdies zu einem exzellenten Fotografen – wird durch die persische Dichtkunst geleitet: Gibt es einen tröstlicheren, verheißungsvolleren Filmtitel als „Der Geschmack der Kirsche“? Die kleinen Wunder des Alltags und des Zufalls scheinen reicher als die Phantasie des Kinos. Er tilgt die Unterscheidbarkeit von ge- und erfundenen Bildern. Ein Kino der leidenschaftlichen Weiterung; der Mensch kann aufgehen im Panorama der Elemente.

 

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