Ein Kulturkampf

Die gerade ausklingende Woche war eine der Abschiede. In Österreich hat Sebastian Kurz sämtliche politischen Ämter niedergelegt und, noch im Abgang ein aufrechter Selbstschmeichler, Vaterfreuden entdeckt. Bei uns fand der Zapfenstreich für die Kanzlerin statt. Einige Kabinettsmitglieder dürfen nun jene Karrieren als Lobbyisten anstreben, für die sich bereits auf ihren Posten empfohlen haben. Der scheidende Gesundheitsminister wiederum kann sich endlich einem Betätigungsfeld zuwenden, vom der er etwas versteht; beispielsweise dem Immobilienhandel.

Andernorts kündigte sich ein Berufswechsel an, der indes weniger zuversichtlich stimmt. Bevor ich zu ihm komme, lassen Sie mich für einen Moment meiner Genugtuung Ausdruck verleihen, dass die Alpenrepublik auch unter der bisherigen Regierung nie ganz aufhörte, ein Rechtsstaat zu sein. Die höchstrichterliche Entscheidung, es sei nicht strafbar, Kurz und Seinesgleichen "Feschisten" zu nennen, bestätigt dies auf erfreulichste Weise. Ob Éric Zemmour, der am vergangenen Dienstag offiziell seine Kandidatur für das Amt des französischen Staatspräsidenten bekanntgab, ein Freund des Rechtsstaats ist, darf man bezweifeln: ohnehin und gerade aktuell. Dessen starken Arm bekam der ehemalige Journalist und glühende Rechtspolemiker in der Vergangenheit mehrfach zu spüren. Er wurde bereits wegen Rassendiskriminierung und Volksverhetzung rechtskräftig verurteilt; seine islam- und frauenfeindlichen Verlautbarungen beschäftigen weiterhin die Gerichte. Auch als Geschichtsrevisionist fällt er regelmäßig auf, namentlich durch die Verharmlosung der Rassenpolitik der Vichy-Regierung. Seine algerisch-jüdischen Wurzeln ermutigen diesen Scharfmacher, in beide Richtungen auszuteilen. Einerseits dämonisiert er die Einwanderung aus dem Maghreb. Im Gegenzug kommentierte er die antisemitisch motivierte Enthauptung des Lehrers Samuel Paty im Herbst letzten Jahres nicht mit Mitgefühl, sondern Spott.

Eine solche Schizophrenie ist weder in der Politik noch im Kino präzedenzlos. Das schwarze Ku-Klux-Klan-Mitglied aus Sam Fullers "Schock-Korridor" war ein klinischer Fall. Zemmour hingegen begreift sich als Repräsentant seiner Landsleute, zumal der stets dienstbaren schweigenden Mehrheit. Das ist dem Videoclip zu entnehmen, den sein Wahlkampfteam zur Bekanntgabe seiner Kandidatur auf Youtube schalten ließen. Darin wirbt er um die Stimmen jener Mitbürger, die sich fremd und exiliert im eigenen Land wähnen, sich umzingelt fühlen von Drogenhändlern, Vergewaltigern und Sozialhilfe-Schnorrern, die nicht die eigene Sprache sprechen. Zemmour steht auf der Seite der wahren Franzosen. Deren Tugenden und die Zumutungen, denen sie ausgesetzt sind, hätten Marschall Pétain und Pierre Laval nicht trefflicher beschwören können.

Seine Parteinahme für die vermeintlich Entrechteten diskreditiert sich zunächst einmal schon dadurch, dass sie das ehrwürdige französische Urheberrecht bricht. Darin folgt Zemmour seinem amerikanischen Vorbild Donald Trump, zu dessen Wahlkampagnen ebensolche Rechtsverletzungen die Begleitmusik lieferten. Die Suada des Franzosen wird illustriert von Nachrichten- und Wochenschaubildern sowie Filmausschnitten, für die das Team keine Genehmigung eingeholt hat. Die SACD, die Gesellschaft der Autoren, Regisseure und Komponisten, gehörte zu den Ersten, die gegen diese unauthorisierte Vereinnahmung protestierten. Luc Besson hat seither Einspruch erhoben gegen die Verwendung einer Szene aus seiner Jeanne D'Arc-Biographie. Er verwehrt sich gegen diese Instrumentalisierung. Die Rechteinhaber weiterer Ausschnitte, darunter der Filmkonzern Gaumont und diverse Fernsehsender, werden Klage einreichen. Jean-Luc Godard, dessen »Außer Atem« in der Montage aufblitzt, hat sich bislang noch nicht zu Wort gemeldet. Das wird kommen, denn Zemmours Propagandastück stellt ja auch eine Rache der Politik an seinem zitierfreudigen Montagekino dar, das die politische Klasse unerbittlich beim Wort nimmt, um ihre Doppelzüngigkeit zu entlarven.

Diese Fragen müssen französische Gerichte klären, die gewiss zu Ungunsten des Kandidaten entscheiden werden. Inzwischen hat aber auch der Kulturbegriff, den Zemmour propagiert, vehemente Debatten ausgelöst. Der gescheiterte Anwärter der Eliteschule ENA (was nicht unbedingt gegen ihn spricht, sie hat die politische Landschaft Frankreichs viel zu lange dominiert) gibt sich hier als Populist, der sich ausdrücklich von der Geschliffenheit eines Emmanuel Macron absetzt. Bildung und Raffinement geziemen sich auch in Frankreich nicht für einen Rechtspopulisten. Gleichwohl ist die tour d'horizon durch das heimische Kulturerbe, die der Clip unternimmt, von eindrücklicher Logik. Pascal, Descartes, Racine, Moliere,Voltaire, Hugo, die Erfindung des Automobils, des Kinematographen und der Concorde werden als ebenso stolze Leistungen gefeiert wie die Feldzüge Napoleons, die Gastronomie, die Chansons von Barbara und Filme von Sautet und Verneuil (Ersteres schmerzte mich besonders, während die Erwähnung Verneuils auf Anhieb überrascht). Weshalb Zemmour das monumentale Frankreich gefährdet sieht, blieb mir ein Rätsel. Oder können Sie sich vorstellen, dass die anderen Beweber planen, den Arc de Triomphe, den Louvre oder das Schloss von Versailles verfallen zu lassen? Dass er die Europäische Gemeinschaft als Bedrohung Frankreich betrachtet, muss hingegen nicht verwundern. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nie zuvor so viel Sympathie für Ursula von der Leyen empfand wie in dem Moment, in dem der Clip sie als Feindbild in Szene setzt.

Der Kandidat liest sein Befund des nationalen Niedergangs zunächst streng vom Papier ab. Er vertraut darauf, dass die unrechtmäßig verwendeten Bilder eine deutliche Sprache sprechen. Es dauert eine Weile, bis er sich aus der Deckung traut und verstohlen in die Kamera schaut. Zwischenzeitlich müssen ihn seine Berater wohl ermahnt haben, sein Publikum direkt und offensiver zu adressieren. Nun tut er es mit dem verschlagenen Blick eines Hypnotiseurs. Auf dem Jahrmarkt mag dergleichen funktionieren. Im zweiten Teil des Clips lässt er sich als Visionär inszenieren. Darin gilt es, das Potenzial des wahren Frankreichs zu zelebrieren. Wann immer ein technischer oder wissenschaftlicher Fortschritt gelingt, scheint er zur Stelle zu sein: als geschehe er kraft seines Wohlwollens.

Mit der Rolle des Journalisten mochte er sich nicht mehr zufriedengeben, bekennt der Kandidat. Das Sprachrohr, das ihm der erzkonservative "Figaro" und seine unseligen Fernsehauftritte gaben, genügten nicht mehr, um Frankreich zu retten. Sein Heimatland ist ihm zu teuer, er muss sich unmittelbar in seinen Dienst stellen. So argumentierte auch der überführte Umfragenfälscher und Lügner Kurz. Zemmours Wille zur Macht ist ebenso bedingungslos. Wissenslos ist er auch. Wie sonst hätte es geschehen können, dass sich in sein Bewerbungsfilm ein unpatriotischer Misston einschlich? Ihm ist nämlich der diskret martialische Zweite Satz der 7. Sinfonie Beethovens unterlegt, die nach der Völkerschlacht von Leipzig ihre Uraufführung erlebte. Gewiss, die „Marseillaise“ hätte doch zu schamlos gelungen. Aber warum kein einschlägiges Stück von Hector Berlioz? Zemmours Berater haben sich wohl des des demagogischen Potenzials erinnert, das Beethovens Sinfonie während der Radioansprache in »The King's Speech - Die Rede des Königs« entfaltet. Ein Fall von Geschichtsvergessenheit? Nein, ein klinischer.

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