Jedes Geräusch hat seinen Grund

Schreiben, meint Jack, bedeutet Zeichen aussenden, so wie ein Leuchtturmwärter. Er selbst kann es nicht, obwohl er schon sieben oder acht Jahre alt ist. Aber er begreift die Welt auch so. Tatsächlich wirkt er ziemlich frühreif; erst recht nach den Maßstäben seiner Epoche, den 1860er Jahren.
Für seinen Tutor ist der Junge eine Zumutung, sie streiten über Sätze wie „Ein Globus hat keine Ecken.“ Der Lehrer erträgt es schlecht, wenn sein Schüler ihm bescheinigt, was er sage, sei korrekt. Die anderen Kinder, Spielkameraden mag man sie nicht nennen, schimpfen den elternlosen Jungen „a half-wit“. Die Erwachsenen aber sind sich einig: „He has a mind“ (das übersetze ich erst gar nicht, zu viele Bedeutungen stecken darin), meint eine, eine andere nennt ihn „a child of rare spirit“. Manchmal sage er Dinge, räumt Jack selbst ein, die er nicht verstehe. Dabei mag er nichts auf der Welt so sehr wie das Denken. Er macht sich einen Reim auf die Dinge, träumerisch und luzide. „Also ist es gut, nicht tot zu sein“, räsoniert er einmal. Es könnte sein, dass er übersinnliche Gaben besitzt. Eine kapitale Herausforderung für ein Hörspiel.

„The Dreaming Child“ beruht auf einer Kurzgeschichte von Karen Blixen/Isak Dinesen, die Harold Pinter Ende der 1990er Jahre für die Schauspielerin Julia Ormond adaptierte. Es ist eines von zwei Szenarien (das andere ist sein legendäres Proust-Drehbuch), die zu Pinters Lebzeiten nicht realisiert wurden. Eine stolze, unglaubliche Bilanz: nur zwei von rund zwei Dutzend! Ormond wollte mit „The Dreaming Child“ ihr Debüt als Regisseurin und Produzentin geben. Es ist nicht auszuschließen, dass ein guter Film daraus geworden wäre – Pinter hatte die Gabe, Filmemacher unterschiedlichster Güte zu inspirieren -, auf jeden Fall war es ein hochkarätiges Projekt: gleich zwei Literaturnobelpreisträger in den Credits, das hatte es seit „Haben und Nichthaben“ von Hawks nicht mehr gegeben! Aber 20th Century Fox schreckten dann doch zurück.

Indes, die Adaption hat ein Nachleben in der famosen Sendereihe „Unmade Movies“ auf BBC4, über die ich an dieser Stelle schon mehrfach geschrieben habe. Inszeniert wurde sie von der britischen Regisseurin Joanna Hogg bereits 2015. Jetzt hat der Sender sie noch einmal wiederholt, und sie ist noch für zehn Tage zu hören (https://www.bbc.co.uk/sounds/play/b054gxpb). Bleibt nur zu hoffen, dass der Brexit heute Nacht daran nichts ändert. Ich empfehle Ihnen diese anderthalb Stunden Hörkino jedenfalls unbedingt.

Erst einmal fand ich die Konstellation Hogg-Pinter faszinierend. Das Hörspiel entstand nach ihrem dritten Film, „Exhibition“, und wahrscheinlich bereitete sie zu diesem Zeitpunkt bereits „The Souvenir“ vor, der vor einem Jahr einen schönen Erfolg in Sundance und auf der Berlinale feierte. Ihr bisheriger Stammschauspieler Tom Hiddleston wirkt leider nicht mit, dafür spricht Lydia Leonard, die in „Archipelago“ dessen Schwester spielt, die weibliche Hauptfigur Emily. Die Handlung spielt 1868 in Bristol, blendet aber häufig einige Jahre zurück. Emily ist mit dem Reeder Tom verheiratet, wird aber heimgesucht von der Erinnerung an die leidenschaftliche Affäre mit dem Soldaten Charlie, der unterdessen vor der chinesischen Küste an Fieber stirbt. Das kinderlose Ehepaar will den kleinen Jack adoptieren – die Dynastie braucht einen Erben -, der in den Slums geboren wurde. Der Junge hält sie für seine leiblichen Eltern, das neue Zuhause ist ihm seltsam vertraut. Allerdings nimmt das Ehepaar ihn vorerst nur zur Probe auf, was fatale Folgen haben wird.

Im Vorfeld hörte ich mir Hoggs Audiokommentar zu „Archipelago“ an, in dem die Filmemacherin sagt, sie habe kein Interesse daran, anderer Leute Drehbücher zu verfilmen. Daran wird sich in der Zukunft hoffentlich auch nichts ändern, aber diese Eskapade markiert vielleicht ein Scharnier in ihrem Werk, das mit „The Souvenir“ (sie arbeitet bereits an einer Fortsetzung) eine entschiedene Hinwendung zum autobiographischen Erzählen vollzieht. Und wer würde sich Pinter schon entgehen lassen? „The Dreaming Child“ stellt gewissermaßen den Fall einer zweifach übertragenen Autorenschaft dar, von Blixen zu Pinter zu Hogg. Das Hörspiel ist mehr als nur eine Fingerübung. Ihre besondere Sensibilität für die Beredsamkeit von Tönen hat die Regisseurin auf der Leinwand immer wieder bewiesen– ich denke etwa an den Vogelgesang, der als Kontrapunkt in die Sprachlosigkeit der Familie in „Archipelago“ einbricht. „Every sound has a reason to be there“ sagt sie im Audiokommentar über ihre Zusammenarbeit mit dem Toningenieur Jovan Ajdar. Auch in „The Dreaming Child“ erklingen Vogelstimmen, vor allem jedoch schafft der Klang von Windspielen eine Atmosphäre von Unwägbarkeit. Manchmal ist es auch ein richtig klassisches Hörspiel, man hat die Geräuschemacher im Studio direkt vor Augen, wenn sie das Trapsen von Pferdehufen imitieren. Ein akustischer Kostümfilm, angesiedelt in jener Epoche, als Suffragetten zum ersten Mal ihre Stimme laut erheben und das Frauenwahlrecht einklagen.

Pinter und Hogg passen gut zusammen: a meeting of the minds. Beiden ist gemeinsam, dass sie es vorziehen, Charaktere nicht zu erklären. Sie sind beherzt lakonisch; erstaunlich, wie oft Hogg ihre Figuren von hinten filmt. Beide haben ein sehr britisches Gespür für Klassenunterschiede, für die Verschiebung von Hierarchien zu Ungleichgewichten. Brüsk schneidet die Tonmontage eingangs zwischen den unvereinbaren Sphären des Slums und des reichen Bürgertums, der abrupte Wechsel von der Geburtsszene zu den Liebeswirren im noblen Milieu ist im Hörspiel vielleicht noch schmerzhafter, als er es auf der Leinwand wäre. Anne Reid, die Partnerin von Daniel Craig in „Die Mutter“, spricht den Erzähltext, die knappen, schneidenden Regieanweisungen Pinters, mit großer Strenge. Hogg respektiert den eigentümlichen Rhythmus von Pinters Dialogen, mit all seinen unerbittlichen Wiederholungen und den verhängnisvollen Pausen. Auch in Hoggs Filmen ist das Schweigen mitteilsam, manifestiert sich unterschwellige Gewalt in Verlegenheit, Zögern und einer Konfrontation, der die Sprechenden lieber ausweichen würden. Hemmung und Selbstbehauptung in ewigem, britischem Widerstreit.

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