Hitler töten

»Komm und sieh« ist kein Film, den man leichten Herzens schaut; gleichviel, ob man ihn zum ersten oder zum wiederholten Mal sieht. Er verdient seinen Ruf, einer der erschütterndsten, brutalsten Kriegsfilme zu sein. Im Grunde ist das "einer" sogar zu viel: Es ist etwas Unbedingtes an Elim Klimovs Film, dem mit dem Komparativ schwer beizukommen ist.

Mit dem Superlativ aber eigentlich auch nicht. Für den britischen Schriftsteller J.G Ballard – der eine jugendliche Kriegserfahrung in seinem Roman "Empire of the Sun" ganz anders und doch verwandt beschrieben hat - war er der beste Kriegsfilm, der je gedreht wurde. Aber was heißt das schon? Der Superlativ ist vorläufig (nicht flüchtig), er kann danach revidiert oder übertroffen werden. Und "einzigartig" sind ja auch so viele Filme. Wenige jedoch sind beim Sehen so schwer zu ertragen und wirken so sehr nach. Bei den ersten Vorführungen wurden ZuschauerInnen in die Notaufnahme eingeliefert, erinnerte sich Klimov später. Jetzt kommt er, dreieinhalb Jahrzehnte nach seiner Entstehung, wieder in die Kinos. Ich kann Ihnen »Komm und sieh« nur empfehlen: Er ist keine Zumutung, sondern eine Prüfung.

Ich habe ihn vor einem Jahr zum ersten Mal ganz gesehen, als ich einen Artikel vorbereitete über die Partisanenfilm-Retrospektive der Viennale. In diesen Kontext passte er für mich zunächst mustergültig. Er handelt vom irregulären Kampf, von verzweifeltem Mut und patriotischer Abenteuerlust, von enormer physischer Anstrengung, der Macht der Elemente und der Übermacht des Gegners. "Ein Partisan" heißt es einmal, "fragt nicht: Wie viel Faschisten sind da? Sondern: Wo sind die Faschisten?" Es geht um das eigene Territorium, das verteidigt oder zurückerobert werden soll, die russischen Wälder vor allem, auch die Steppen, in denen man schutzloser ist.

Für den zwölfjährigen Fjiora fängt der Krieg fast noch als ein Kinderspiel an, aber der Auftakt ist schon verstörend genug; allein schon wegen der Stimme des Kindergreises zu Beginn. Klimov gibt seinem Erleben einen Freiraum, der lyrisch und poetisch ist. Er mildert das Grauen nicht. Partisanenfilme handeln stets auch davon, wie die Heimat fremd wird. Der Moment, in den Fijora in sein Elternhaus zurückkehrt, dort niemanden antrifft, die Suppe ist und sich wundert über die vielen Fliegen, die herumschwirren, bringt diese Erfahrung des Fremdwerdens direkt ins Private, ins Zuhause. Klimov hatte große Sorge, dass sein Hauptdarsteller Alexei Krawtschenko die Dreharbeiten überstand, ohne Schaden für seinen Verstand und seine Seele zu nehmen. Der Dreizehnjährige war ein Laie, dem keine professionellen Schutzmechanismen zu Gebot standen. Der Regisseur hatte für alle Fälle einen Hypnotiseur am Set.

Partisanenfilme sind parteiisch, dieser ist unerbittlich subjektiv. Wir sehen und hören, was der zwölfjährige Fijora zu sehen und zu hören meint. Heute würde man Klimovs Ästhetik immersiv nennen. Sein Kameramann Alexei Rodionov macht von der Steadycam Gebrauch, vielleicht zum ersten Mal im sowjetischen Kino, aber bereits völlig souverän. Spielberg hat »Komm und sieh« bestimmt gesehen, bevor er „Saving Private Ryan“ drehte. Auch bei dem hagelte es ja Superlative. Klimov durchbricht immer wieder die vierte Wand, Fijoras Blicke oder die seiner Gegenüber adressieren die Kamera ganz unmittelbar. Es gibt kein Entrinnen aus diesem Film. Man muss sich ihm stellen.

Als ich ihn vor einem Jahr sah, versuchte ich es immer wieder. In der letzten Stunde, als das Dorf, eines von 628 in Belarus, von den deutschen Invasoren in einen Scheiterhaufen verwandelt wird, hielt ich die DVD regelmäßig an. Ich musste an meinen Vater denken, der an der Ostfront gekämpft hatte als junger Mann und von dort einen ziemlichen Respekt vor den Partisanen mitgebracht hatte. Er hätte einer der Soldaten sein können, deren Mordlust entsetzlich entfesselt wird. Das waren sicher lauter Leute, die als unbescholtene Menschen in den Krieg gegangen waren und mit dem Glauben aus ihm herauskommen wollten, dies wieder werden zu können. Für einen Moment dachte ich, die SS- und Wehrmachtsangehörigen mussten sich wohl Fritz Langs »Nibelungen« erinnert haben, als sie die Scheune mit allen DorfbewohnerInnen darin in Brand steckten.

Aber diese Ausflucht half mir nicht. Vater hatte stets nur Anekdoten aus den Kriegsjahren erzählt, fast unbeschwert. Wie so viele Familien ließen wir jede Gelegenheit verstreichen, auch die Wehrmachtsausstellungen der 1990er Jahre. 2017 erlebten wir einen Moment, in dem wir wohl beide schweigend fürchteten, uns der Vergangenheit stellen zu müssen. Wir wollten seinen Geburtstag in dem Hotel in St. Petersburg feiern, in dem er 1969 mit einer politischen Delegation abgestiegen war. Die Einreise ging reibungslos über die Bühne – wir hatten das Visum einer Reisegruppe -, aber auf dem Rückweg wurde er aufgefordert, zu warten, bis sein Reisepass geprüft wurde. Er hatte das Alter, Kriegsteilnehmer gewesen zu sein. 1969 war das noch nicht so leicht überprüfbar wie im digitalen Zeitalter. Nach einigen Minuten erhielt er den Pass zurück. Unsere Erleichterung war groß. Insgeheim war ich froh, dass ich ihm nie Fragen gestellt hatte. Warum nur habe ich es an diesem Abend nicht getan?

Elim Klimov hatte als Achtjähriger miterlebt, wie seine Heimatstadt Stalingrad in Flammen aufging, als deutsche Bomben ein Petroleumlager getroffen hatten. Seine Mutter wollte, dass er wegschaute. Aber das konnte er nicht. Ich vermute, daraus erwuchs eine Verpflichtung für den Regisseur. Sieben Jahre kämpfte er darum, „Komm und sieh“ drehen zu können. Sein Co-Autor , der Schriftsteller Ales Adamowitch, der aus Belarus stammte, war eine treibende Kraft in diesem Kampf. Goskino lehnte das Projekt beharrlich ab, es warf ihm eine "Ästhetik des Schmutzes" vor. 1985, ein Jahr nach der Wahl Gorbatschows, brach wieder eine Tauwetterperiode im sowjetischen Kino an. Es galt, den 40. Jahrestag des Kriegsendes zu feiern. Ihren Arbeitstitel „Hitler töten“ konnten sie nicht durch die Zensur schleusen. Klimovs Bruder wies ihn auf die Zeile aus der Offenbarung des Johannes hin, nach der sein Film nun genannt wird. "Den Film wird sich niemand anschauen", sagte der Regisseur zu seinem Autor. "Schade", erwiderte Adamowitsch, "aber drehen müssen wir ihn dennoch." Am Ende sahen ihn allein der SU fast 29 Millionen Menschen im Kino. Er ging um die Welt und tut es immer noch.

Dass seine Wiederaufführung in dieselbe Woche fällt, in der »Bohnenstange« anläuft, ist ein kluger Zufall. Sie sind völlig anders und verwandt, in ihrer Ästhetik (der subjektive Ton ist bei Klimov noch bezwingender, tollkühner gestaltet als bei Balagov) wie ihrer Thematik, der Untilgbarkeit des Entsetzens. Sie erzählen vom Jetzt und vom Danach des Großen Vaterländischen Krieges, der nichts Heroisches mehr hat. Mascha ist mit der Front bis nach Berlin vorgestoßen, um Rache zu nehmen. Ich glaube, Hitlers Name fällt in »Bohnenstange« nicht; am Ende von »Komm und sieh« zeigt Klimov ein Foto, auf dem er tatsächlich der Sohn einer Mutter ist. Die zwei Filme kommunizieren miteinander, wie es nur Meisterwerken gelingen kann. Vielleicht verstehen sie sich sogar.

 

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