Lieber Silber als Gold?

Die Statistik wird er bestimmt verhageln und den Bechdel-Test besteht er ohnehin nicht, was für den Großteil der Filme Martin Scorseses seit »Alice lebt hier nicht mehr« gilt. Aber ich habe erhebliche Zweifel, ob »The Irishman« tatsächlich ein Fall für die Repräsentationspolizei ist.

Allerdings müssen sich der Regisseur und sein Hauptdarsteller in Interviews momentan häufig dafür rechtfertigen, dass Anna Paquin in dem dreieinhalb Stunden langen Film nur ganze sieben Worte spricht. Ich habe nicht mitgezählt, aber es entspricht auch meinem Eindruck. Wenn also in ein paar Monaten die jährlichen Erhebungen des Anteils weiblicher Figuren am Dialogaufkommen in Hollywoodfilmen erscheinen, wird »The Irishman« das Rechenergebnis ziemlich zurückwerfen.

Da es sich im heutigen Debattengeschäft empfiehlt, erst einmal schwere Geschütze aufzufahren, mag auch ich nicht klein beigeben. So viel Unverstand bringt mich in Rage, und ich kann nicht umhin, den Anklägern Philistertum vorzuwerfen. Aus ihrer Empörung spricht jener spießbürgerliche Elan, dem das Gerücht schon genügt und die eigene Anschauung überflüssig macht. Haben die Wörterzähler denn nicht hingesehen? Haben Sie denn wirklich keine Ahnung, wie Kino funktioniert? Das Ganze kommt mir auch insofern als ein Sturm im Wasserglas vor, als es über das eigentliche, viel verhängnisvollere Missverhältnis hinwegtäuscht: die indifferente Zeichnung der Ehefrauen in Scorseses Mafia-Nummernrevue.

Wenn ich etwas aus »The Irishman« in Erinnerung behalten werde, dürfte dies neben dem mulmigen Anblick des digital verjüngten De Niro und einem köstlichen Epitaph ("Well liked by all, died of natural causes") die Präsenz von Paquin sein. Die Blicke, die sie als Peggy Sheeran an ihren Vater richtet, haben immenses Gewicht. Sie treffen genau ins Ziel. Schon in ihrer Kindheit sind sie scharf und klug. Ihr Ausdruck lässt sie zu einem moralischen Kraftfeld werden. Peggy ist das schlechte Gewissen, von dem Frank Sheeran keinen Begriff hat. Den Anhängern der Buchstäblichkeit mag das entgehen. Dabei leitet Steven Zaillans Drehbuch gerade dazu an, den Worten zu misstrauen. Dieses Schweigen könnte lauter nicht sein.

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