Die schweigende Minderheit

Eine der erfreulichsten Anekdoten der Filmgeschichte handelt von einem gut versteckten Schatz. Allem Anschein nach hat sie sogar den Vorzug, wahr zu sein. Sie spielt während des Zweiten Weltkriegs in Shanghai und hat eine schöne Coda nach dessen Ende.

Die Brüder Shaw retteten das Vermögen, das sie seit Mitte der 1920er Jahre im Filmgeschäft angehäuft hatten, vor den japanischen Besatzern, in dem sie es im Garten hinter dem Haus vergruben. Dort überstand der Schatz aus Gold, Geld und Juwelen die Kriegszeit weitgehend unbeschadet. Als die vier Filmproduzenten ihn wieder ausgruben, waren einzig die Bahnnoten etwas lädiert. Sie waren, wie es Run Run, der jüngste der Brüder schön formulierte, "immer noch reich." Der Krieg hatte einen enormen Rückschlag für ihre Unternehmungen bedeutet, die sich nicht allein auf die Filmmetropole Shanghai beschränkten, sondern auch Verleihfirmen in Singapur und Malaysia umfasste. Nun konnten sie wieder expandieren.

In den 1950er Jahren errichteten die Brüder in der Clearwater Bay in Hongkong das größte Filmstudio der Welt und produzierten ab 1958 unter dem Firmennamen "Shaw Brothers" rund 1000 Filme. In Deutschland sind als Heimmedien vor allem ihre Kampfkunstfilme erhältlich, die Saga um den "Goldenen Drachen" oder die wehrhaften Shaolin-Mönche. Aber ihr Spektrum war noch erheblich weiter. Sie kooperierten beispielsweise mit den britischen Hammer Studios und waren an Ausläufern des Blaxpoitation-Kinos beteiligt. Run Run, der im gesegneten Alter von 106 Jahren starb, fungierte als Co-Produzent von »Blade Runner«. In New York läuft gerade eine Retrospektive über Regisseurinnen, die sie förderten, darunter die große Ann Hui. Mithin legten die Brüder einen Grundstein für die Blüte des Hongkong-Kinos; fast jeder berühmte Name verbindet sich mit ihnen. Jackie Chan etwa debütierte 1962 als Achtjähriger in ihrem Melo »The Love Eterne«.Die Produktionsfirma gehört mittlerweile der Geschichte an, aber es wäre interessant zu spekulieren, wie sie sich nach 1997 auf dem gesamtchinesischen Markt engagiert hätte. Bis zur Rückgabe der Kronkolonie an Festlandchina zirkulierten ihre Filme vor allem im Dreieck Hongkong, Singapur und Taiwan.

Die nicht abreißenden Proteste in Hongkong spalten zweifellos auch die dortige Filmbranche. Aber bislang hört man immer nur Stimmen, die für eine Seite Partei ergreifen. Ausgelöst wurden sie bekanntermaßen durch das Abschiebedekret, von dem die Regierungschefin des Autonomen Territoriums, Carrie Lam, zwar inzwischen Abstand genommen hat; es hätte dem Status Hongkongs als Sonderverwaltungszone eklatant widersprochen. Aber ihr Vorstoß rührte nicht nur an die eigene Gerichtsbarkeit, sondern auch am Demokratieverständnis und dem ebenso ausgeprägten Unabhängigkeitsgefühl der Bewohner Hongkongs. Unlängst haben die Protestierenden fast zwei Millionen von ihnen für eine Demonstration mobilisiert, mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Einen der Wortführer der Bewegung konnte man vor ein paar Tagen in einer Nachrichtensendung erleben, den Studenten Joshua Wong, der kaum älter zu sein schien als Greta Thunberg.

Die Stadt spaltet sich derzeit in das "blaue Lager", das einen stärkeren Einfluss Pekings befürwortet, dem das "gelbe Lager" sowie eine noch schweigende Mehrheit gegenüber stehen. Ob und wie sich diese Konstellationen auf die Filmbranche übertragen lassen, ist nicht momentan nicht klar zu bestimmen. Ohne Zweifel wird es Filmkünstler geben, die sich für die Protestbewegung stark machen. Aber nichts davon gelangt durch die Zensurschleuse. Ich zumindest habe nur Äußerungen von Leuten gelesen, die auf der Linie Pekings stehen. Es sind ausschließlich Schauspieler. Tony Leung nahm an einer Demonstration für die Hongkonger Polizei teil. Auch Crstal Liu aka. Lui Yifei, die Hauptdarstellerin von Disneys kommendem Realfilm-Remake von »Mulan«, macht sich für sie stark. "Ihr könnt mich ruhig dafür prügeln", postete sie aus der komfortablen Entfernung ihres US-Domizils.

Einige Beobachter warfen anfangs Jackie Chan vor, sein Gewicht nicht zugunsten der Protestbewegung in die Waagschale zu werfen. Das war ziemlich naiv, denn Chan hat seine Loyalität gegenüber Peking schon seit 2008 demonstriert, als er sich einreihte, um das olympische Feuer ins Stadion zu tragen und sich heftig über Störenfriede der Zeremonie beschwerte. Auch der Regenschirm-Revolte, über die ich an dieser Stelle bereits schrieb (siehe Eintrag vom 14. 10, 2014: https://www.epd-film.de/blogs/autorenblogs/2014/schirmherrschaft), stand er feindlich gegenüber. Das mag angesichts seiner Biographie erstaunen (zudem stammt seine Frau aus dem ewigen Zankapfel Taiwan), aber er scheint davon überzeugt, dass Regimetreue seiner Karriere mehr nutzt. Vielleicht hat ja auch er sein Vermögen, das auf 350 Millionen Dollar (US, nicht Hongkong) geschätzt wird, sicher vergraben. (Vielleicht auch nicht, immerhin taucht sein Name in den Panama-Papers auf).

Derweil scheint eine weitere Drohgebärde Pekings zu verfangen. Demnächst steht die Verleihung der "Golden Horse Awards" an, die zwar im abtrünnigen Taiwan vergeben werden, aber bislang dennoch als chinesische Oscars galten. Fast alle Hongkonger Filmstudios folgen dem festlandchinesischen Aufruf zum Boykott. Präsident der Zeremonie soll Johnnie To sein, dessen Filme, namentlich »Election«, einigen Aufschluss über die aktuellen Turbulenzen geben können. Bisher war er nicht zu einer Stellungnahme bereit. Seine Stimme hat Gewicht. Ist es naiv zu hoffen, er würde sie der Demokratiebewegung geben?

 

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