Der Schienenstrang als Lebenslinie

In einer Mail, mit der er auf den gestrigen Eintrag reagierte, staunt Michael Klier über „Maßlosigkeit & Erfindungswahnsinn“ von Abel Gance. Er betrachtet „La Roue“ als das Gegenteil eines „eingesperrten“ Films. Vielen Dank für dieses denkwürdige Adjektiv; auch bei „Idioten der Familie“ geht es ja darum, Grenzen zu überschreiten.

Ich glaube, der einzige Maßstab, den Gance akzeptierte, war die eigene Vorstellungskraft (einmal abgesehen von den tiefen Taschen seines Produzenten Charles Pathé). In „La Roue“ will er das Vokabular und die Grammatik des Kinos radikal erweitern, dem filmischen Blick ungeahnte Freizügigkeit zu erstreiten. Am nötigen Selbstbewusstsein fehlte es ihm nicht nicht. „Das Kino ist noch seine Kunst“, schrieb er nach dem Start des Films, den er furchtbar missverstanden fand, „aber es gibt einige Einstellungen meines Hauptdarstellers Severin-Mars, die man in 50 Jahren nicht besser drehen könnte.“

Er fand Fürsprecher. Jean Cocteau meinte, es gebe ein Kino vor und nach „La Roue“, so wie es die Malerei vor und nach Picasso gebe. Sein Kollege Jean Epstein feierte ihn als einen Vorläufer, in dessen Werk die Innovationen bereits ihre vollendete Form fanden. Gance ist ein Avantgardist, der ein möglichst großes Publikum sucht für seine visuellen Entdeckungen: Der Erfinder und der Erzähler sind untrennbar voneinander. „La Roue“ hat ungeheure Lust an den eigenen, prunkenden Attraktionen. Vor allem die atemlose Montage verblüffte damals, aber sie ist aufgehoben in einem ansonsten berückend gelassenen, behänden Montagerhythmus. Das Glanzstück eines Equilibristen. Gance hat zwar fast ausschließlich an Realschauplätzen gedreht (es gibt keine Rückprojektionen), deren Wahrnehmung aber mit Blenden und Masken verfremdet (in den Alpen sind die so entstehenden Bildränder nicht schwarz, sondern neblig-weiß); sie verengen kühn den Bildraum oder öffnen ihn zu Breitwandformaten. Gance experimentiert nicht nur mit der Atomisierung der Erzählelemente – machen Einstellungen sind nur einen Frame lang -, sondern im Gegenzug auch an ihrer Ausweitung. Die Figuren nähern sich der Kamera bis zu extremen Großaufnahmen. Irisblenden werden langsamer geöffnet und geschlossen, als es üblich war; sie fokussieren den Blick nicht nur in Nahaufnahmen, sondern auch in der Distanz von (Halb-) Totalen. In „La Roue“ habe ich zum ersten Mal gesehen, dass Schrift tafeln nicht nur in die Zwischentitel, sondern in die Bilder gesetzt werden kann.

In seiner Mail fragt Michael Klier: „Gibt es eine Ästhetik des Reichtums der filmischen Mittel und eine der Armut der filmischen Mittel? Und was ist die Essenz eines Filmes wie "La Roue" und meines Films?“ Ich fürchte, auf Letzteres muss ich ihm vorerst die Antwort schuldig bleiben. Gance' Film jedenfalls lässt sich auf keinen Nenner bringen, es drängen vielmehr alle möglichen Arten visuellen Erzählens in einen einzigen Film hinein. Das ist gewiss aber auch ein essenzieller Grund, weshalb er mich über sieben Stunden hinweg nicht aus seinem Bann entließ. Einigen, mit denen ich in den Pausen sprach, war er sogar zu kurz: Sie meinten, immer noch Lücken und Ellipsen entdeckt zu haben. Die lange Wegstrecke, die wir mit den Figuren zurücklegen, ermöglicht eine Teilhabe, die uns andere Filme verweigern. Die Langsamkeit der dramaturgischen Bewegungen respektiert ihre existentielle Situation: das lähmende, unerlöste Verharren in ihren Gefühlen.

Ein zentraler Vorwurf, der ihn nach der Premiere traf, auf dessen vermeintliche Inkohärenz. Mir scheint er hingegen ein Werk voller struktureller und ästhetischer Entsprechungen zu sein. Der Erzählgestus der Ausführlichkeit setzt die verschiedenen Perspektiven in ihr Recht. Sisifs Abschied von seiner Lok, die er „Norma“ getauft hat, ist wie ein Liebestod inszeniert. Er findet ein schönes Echo in Normas Abschied von ihrem Zuhause, bei dem sie wehmütig Töpfe und Pfannen berührt, die neben der Eisenbahn die prägenden Requisiten ihres bisherigen Lebens waren. In der Sequenz, in der Sisif bemerkt, dass er sein Augenlicht verlieren wird, dekliniert Gance die Unschärfe seiner Wahrnehmung in zahllosen Varianten durch. Auch dieser Moment findet ein berührendes Pendant: in der Szene vor dem Aufbruch zum Tanz, als Norma auf ihrem Gesicht erstmals Falten entdeckt.

„La Roue“ ist, selbstverständlich, einer der großen Eisenbahnfilme und schöpft die plastischen Möglichkeiten dieses Topos' vollends aus. Wie bei Shohei Imamura oder Jean Renoir sind Züge Agenten des Schicksals. Der Schienenstrang ist die Lebenslinie seines Helden. Zudem dient der Zugverkehr als strukturierendes Element des Drehbuches. Er ist ein vielfach retardierendes Moment, zögert die Lösung der Konflikte heraus oder verhindert sie: ein Melodram nach Fahrplan. Den Moment, wo Sisif die Prügelei mit einem Widersacher abbricht, weil dessen Zug gleich abfahren muss, finde ich die herrlichste Pointe in „La Roue“.

Zugleich fügt sich Sisifs Liebe zu seinen Lokomotiven in den faszinierenden Pantheismus, der Gance‘ Inszenierung bestimmt. Maschinen und Menschen, Flora und Fauna, Witterung und Elemente scheinen mit der gleichen Lebenskraft erfüllt. Diese Beseeltheit der Dingwelt (die auch als Gleichnis für den Schaffensprozess deutbar ist - ein Vorspanntitel lautet „Scénario d‘Abel Gance, animé par l’auteur“) kulminiert im Bauerntanz der Schlusssequenz, dessen Bewegung von den um die Gipfel kreisenden Wolken aufgegriffen wird. Abel Gance wollte, dahingehend zitierte ihn im Konzerthaus Nina Goslar, die unermüdliche Fürsprecherin des Stummfilms in der arte/ZDF-Redaktion, die Wirklichkeit zwingen, Traum zu werden.

 

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