Rendezvous mit Verspätung

»Mit siebzehn« (2016). © Kool Filmdistribution

Seit dem Februar letzten Jahres stellt sich mir häufiger die Frage, ob man mit dem 21. Jahrhundert konkurrieren kann. Seit ein paar Tagen, als ich die Kritiken zum hiesigen Kinostart von »Mit siebzehn« las, scheint es mir, als sei dieses Unterfangen nicht ganz aussichtslos.

Als André Téchinés Film 2016 im Wettbewerb der Berlinale lief, stieß er auf eine verhaltene Resonanz. Gewonnen hat er nichts. Darüber musste man sich nicht ärgern; es war schon erfreulich, dass er lief. Eine Abo auf die Wettbewerbe von A-Festivals hat dieser Filmemacher ja schon lange nicht mehr. Für mich stellte »mit siebzehn« die Rückkehr eines großen Regisseurs zu alter Form dar. Das war, wie sich herausstellen sollte, kein schlagendes Argument gegen das Flair thematischer oder ästhetischer Aktualität, das viele seiner Mitwettbewerber umgab. Sogar in der traditionell eher wertkonservativen Kritikerrunde, die sich alljährlich in der Radiosendung »Projection privé« von Michel Ciment zusammenfand, stand ich mit meiner Begeisterung ziemlich allein da. Ein Kollege von »El Pais« wandte ein, dem Film eines Regisseurs jenseits der Siebzig, der an die 1990er Jahre anknüpfe, sei doch allemal ein Film wie »L'avenir« (Alles was kommt) von Mia Hansen-Love vorzuziehen, der nun wirklich zum 21. Jahrhundert aufschließe. So gern ich mich auch sonst dem brillanten Kollegen anschloss, konnte ich diese Opposition nicht nachvollziehen. Im Gegenteil schätze ich an beiden Filmen, dass sie nicht um jeden Preis versuchen, »zeitgemäß« zu sein.

Bei seinem Kinostart in Frankreich erlitt Téchinés Film im Frühjahr letzten Jahres gründlich Schiffbruch an den Kinokassen. Seitdem nimmt er jedoch langsam an Fahrt auf. Er schaffte es sogar auf die Bestenlisten einiger anglo-amerikanischer Kritiker. Die Resonanz zum deutschen Kinostart in dieser Woche hat mich verblüfft, fast überwältigt, auf jeden Fall aber mit Genugtuung erfüllt - weniger, weil sie meiner ursprünglichen Einschätzung Recht gibt, sondern weil sie demonstriert, dass einige Filme noch eine Chance haben können, obwohl sie beim Kräftemessen eines Festivalwettbewerbs unterlegen schienen. Nun, da »Mit siebzehn« aus den Fesseln der Bedeutungskonstruktions- und Verbrennungsmaschinerie Berlinale befreit ist, kann er von einem gelösteren Blick profitieren. Jetzt kommen seine unaufdringlichen Tugenden, etwa die Verwurzelung in einem Bergtal, in das sich zuvor nie eine Filmkamera verirrte, zum Vorschein. Allerorten, von der »FAZ« über die »Süddeutsche« bis zur »taz«, scheint er jetzt Enthusiasmus auszulösen, wird gefeiert für den leichthändigen, jugendlichen Elan des Filmemachers. In den Kritiken wird der Coming-Out-Geschichte eine neue Rolle zugewiesen: als begrüßenswertes Gegenbeispiel zum Problemfilm deutschen Zuschnitts.

In ihrer Rezension im »freitag« vermeidet es Esther Buss ausdrücklich, ihrem Werturteil »meisterlich« ein »alt« voranzustellen. Auch sie findet, der Film wirke »so dynamisch, unverbraucht und direkt wie Téchinés pulsierende Jugenderinnerung 'Wilde Herzen' (1994).« Mit seinen vorangegangenen Filmen konnte sie allerdings nichts anfangen, bei denen »man eigentlich immer weniger wusste, um was es ihm eigentlich noch geht.« Hier ist natürlich das »noch« interessant. Es verweist auf einen hohen Maßstab, den man einmal an die Hervorbringungen dieses Regisseurs anlegen konnte: Es ging in ihnen »um etwas«, sie besaßen eine erzählerische Dringlichkeit; durchaus auch in dem Sinne, das sie unmittelbar auf aktuelle notwendigkeiten reagiertem, auf Fragen, die sich dem Publikum jeweils stellten. Sie waren mindestens auf der Höhe ihrer Zeit, dieser etwa in ihrem zugeneigten Blick auf die Zuwanderung aus dem Maghreb vielleicht sogar voraus.

Es ist nachvollziehbar, dass Téchiné seit gut einem Jahrzehnt aus dem Blickfeld der hiesigen Kritik verschwunden ist. Wann lief zuletzt ein Film von ihm in unseren Kinos? Da ich auch für Publikationen in Österreich und der Schweiz schreibe, müsste es mir in dieser Zeit theoretisch leichter gefallen sein, ihm die Treue zu halten. Ganz so einfach war das letzthin nicht. Seine Ausflüge auf das Terrain des true crime (»La fille du RER«, »L'Homme qu'on aimait trop«) kommen mir einerseits wie etwas ratlose Suchbewegungen vor, obwohl sie andererseits starke junge Frauenfiguren ins Zentrum rücken. Aber ihr Erzählmodell ist letztlich ein Korsett, aus dem sich Téchiné nicht wirklich befreien konnte. Zuweilen hatte ich den Eindruck, als würde er seine Position im französischen Autorenkino nur noch behaupten können dank seiner Freundschaft zu Catherine Deneuve, die in beiden Filmen allerdings wirklich dankbare Rollen hat. Auch mir schienen dies fast Indizien dafür zu sein, dass ein Generationenwechsel dringend notwendig war. Nun hat er mich überrascht. »Mit siebzehn« könnte ein Scharnier in seiner Karriere sein, vielleicht gar ein Wendepunkt. Er gibt ein Versprechen von Frische aus, das neugierig macht. Man darf wieder mit Téchiné rechnen, auch im 21. Jahrhundert.

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