Fremde Gezeiten

»Pirates of the Carribean: Salazars Rache« (2017). © Walt Disney

Ich glaube, am letzten Donnerstag habe ich ein Vorbeben erlebt. Aber mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Nach einem Update, auf dem er hartnäckig insistierte, spielte mein Computer verrückt. Ständig stürzten die Browser sowie mein Mail- und Schreibprogramm ab. Zumal Letzteres war ärgerlich, da ich feststellen musste, dass ich den Schlussteil meines Textes noch nicht abgespeichert hatte.

Das war für die Redaktion verdrießlicher als für mich, denn die musste eine halbe Stunde länger auf meine Abgabe warten. Dem Text hat es nicht geschadet; die neue Version war bündiger und pointierter. Das war mir eine Lehre, seither klicke ich die Funktion zum Abspeichern häufiger an. Wahrscheinlich war ich aber noch kein Opfer der Cyber-Attacke, die das Netz und die physische Welt von Freitag an unsicher machte. Mich hatte wohl ein anderer Trojaner erwischt als der, der unter dem Logo "Wanna Cry" für Verheerungen sorgte. Allerdings erfuhr ich gestern in einem Magazin-Beitrag von einer Übersetzerin, deren Dateien plötzlich verschlüsselt waren und die mit einer erklecklichen Forderung an Bitcoins konfrontiert wurde, um wieder Zugriff zu ihrem geistigen Eigentum zu erhalten. Anscheinend sind auch kleine Fische für Hacker interessant.

Die Bahn traf es da schon schwerer als unsereins. Andererseits war die Verwirrung um Abfahrtzeiten und Anschlüsse auch nicht größer und parierten die Angestellten die Fragen ihrer besorgten Fahrgäste auch nicht unfreundlicher als sonst. Mein Zug kam sogar etwas zu früh in Berlin an. Die neuerliche, für den Montag geplante Attacke blieb aus, aber Entwarnung wollte bislang kein IT-Spezialist geben. Tatsächlich scheinen die Hacker einen großen Fisch an der Angel zu haben. Heute wurde bekannt, dass Disney erpresst wird. Falls der Konzern nicht eine zweifellos erkleckliche Summe an Bitcoins zahlt, werde man den nächsten Teil der »Piraten der Karibik«-Saga ins Netz stellen. In einer der Meldungen hieß es, sie würden nur Ausschnitte online veröffentlichen, in einer anderen war von Segmenten die Rede. Das darf man sich wohl vorstellen wie die "Zuerst schneiden wir den kleinen Finger ab und dann...."- Drohungen aus einschlägigen Filmen. Dort zeitigt so etwas ja oft Wirkung. Bei Netflix hingegen verfing eine ähnliche Drohgebärde vor einigen Wochen nicht: Die Online-Piraten gingen leer aus und stellten tatsächlich die neue Staffel von »Orange is the new black« ins Netz.

Welcher Schaden Disney und Jerry Bruckheimer durch diese Häppchen-Strategie entstehen soll, ist mir noch schleierhaft. Dass die Erpresser das doch ziemlich träge gewordene Enterhaken-Franchise ausgewählt haben, ist zwar naheliegend. Aber ist vom fünften Teil irgendetwas zu erwarten, das nicht vorhersehbar wäre? Der viel publizierte Gastauftritt von Paul McCartney ist ja nur eine müde Replik auf das alte Stones-oder-Beatles-Dilemma. Und an einer Auferstehung Johnny Depps mag man mittlerweile auch nicht mehr glauben.

Das sehen die Online-Piraten womöglich anders. Ihr Name lässt immerhin vermuten, dass sie bibelfest sind: Spezialisten gehen davon aus, hinter der Kaperei stecke die "Lazarus"-Gruppe, die im November 2014 schon eine Breitseite auf Sony abfeuerte. Damals hieß es, sie handle auf Geheiß der nordkoreanischen Regierung, die Rache nehmen wollte für die Verspottung Kim Jong Uns in »The Interview«. Bei einer solch einer wirren Gemengelage geraten nicht nur mir die Metaphern durcheinander. Andererseits kam es in der Geschichte der Piraterie nicht selten vor, dass sie in hoheitlichem Auftrag geschah. Francis Drake wurde von Queen Elizabeth I ebenso in den Adelsstand erhoben wie später Robert Surcouf von Napoleon. Das mag auch in Ostasien nicht anders gewesen sein. Das war damals schon eine globalisierte Welt, in der es keine international verbindlichen juristischen Standards gab.

Indes, einer meiner Lieblingsfolgen von »Criminal Intent« entnahm ich am Wochenende, dass die Rechtsprechung seither Fortschritte gemacht hat. Es ist die, in der Vincent d' Onofrio und Jeff Goldblum gemeinsame Sache machen, um den Mörder ihres Chefs Eric Bogosian zur Strecke zu bringen. Da verhaften sie einen Waffenhändler, den sie der Piraterie am Horn von Afrika beschuldigen. Der Schurke hat zunächst nur ein müdes Lächeln für dieses Manöver über, denn er fühlt sich in New York sicher. Aber Goldblum, der in der Serie immer für eine Überraschung gut ist, zitiert ein Gesetz, das auf George Washington zurückgeht: Piraten kann man festnehmen, wo auch immer man ihrer habhaft werden kann. In analogen Zeiten herrschten natürlich noch klarere Verhältnisse. Welcher Filmpirat hätte schon eine Kopie geraubt, um sie in einem Kino in Portland, Margate oder Wuppertal vorzuführen und dann flugs von der örtlichen Polizei verhaftet zu werden? Die digitale Revolution hat nicht nur den Vertrieb von Filmen unzüchtig bequem werden lassen, sondern auch die Enteignung enorm erleichtert.

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