Kino im Gradierwerk

Bild: Carola Loeser

Eine Reise in die Heimat hat ihre Vorzüge; sicherlich nicht nur, wenn sie in Ostwestfalen liegt. Man darf sich am Nabel der Welt fühlen. Der Anschein des Provinziellen trügt. Vielmehr wird man von Superlativen förmlich umzingelt. Die Lokalpresse kommt kaum nach in der Berichterstattung über mannigfache Rekordleistungen.

So wurde das "MartA" in meiner Geburtsstadt Herford zum Museum des Jahres gekürt (zugegeben, mittlerweile zu dem des Vorjahres); nicht nur, weil es von Frank O. Gehry entworfen wurde. Ein hiesiger Koch schaffte es in einer einschlägigen Fernsehshow auf den Dritten Platz. Und der Mitbetreiber des letzten, wiedereröffneten Kinos "Capitol" darf sich rühmen, die größte Sammlung von Filmplakaten in Deutschland zu besitzen. Im wahren Leben ist er übrigens Postbeamter. Zwar war das "Capitol" nie mein Lieblingskino (auch wenn ich oft brav die letzte Schulstunde schwänzte, um Mittagsvorstellungen von schlechteren John-Wayne-Vehikeln wie »Chisum« zu besuchen), aber die Anstrengungen, trotz übermächtiger Mulitplex-Konkurrenz im benachbarten Bielefeld wieder den Betrieb eines Kinos aufzunehmen, wären mal einen eigenen Eintrag wert. Na, ich war Weihnachten ja nicht zum letzten Mal dort.

Zum Ausklang des letzten Jahres machte ich mich auf einen weiteren Superlativ gefasst: Am frühen Silvesterabend besuchten wir die angeblich größte Leinwand der Welt. Streng genommen sind es zwei. Sie stehen (eine bereits seit mehreren Jahrhunderten, die andere nicht ganz so lang) in Bad Rothenfelde, kurz hinter der Grenze zu Niedersachsen. Es handelt sich um die Gradierwerke, die Salinen des Luftkurortes. Bereits zum fünften Mal seit 2007 wird dort die Projektionsbiennale "lichtsicht" (www.lichtsicht-biennale.de) veranstaltet. Ich hatte noch nie von ihr gehört – und hätte gern auch früher von ihr erfahren, denn sie läuft seit September. Man hätte sie also schon bei freundlicheren Temperaturen bestaunen kommen. Gleichwohl versammelten sich viele Schaulustige bei klirrender Kälte vor den Installationen. Sie lockt an 10 Stationen mit großen Namen. Unter anderem ist eine aktuelle Arbeit des südafrikanischen Multitalents William Kentridge zu sehen sowie zwölf Videoporträts, die Robert Wilson von Berühmtheiten wie Brad Pitt, Caroline von Monaco, Salma Hayek, Isabelle Huppert und Isabella Rosselini aufgenommen hat. Und sollte diese Aufzählung noch als Legitimation für den Bericht auf einem Filmblog genügen, darf ich hinzufügen, dass zur Begleitung unter anderem Musik von Bernard Herrmann läuft. Ohnehin knüpft die Veranstaltung an das Schattenspiel an, das man mit Fug und Recht ja zur Vorgeschichte unseres Mediums zählen darf. Überdies empfiehlt es sich, die von Tim Otto Roth gestaltete Station mit einer 3-D-Brille zu besichtigen; der stereoskopische Effekt von »Water Dancer« (Eyal Gever) wiederum stellt sich auch ohne Hilfsmittel ein.

An einem gediegenen Kurort hätte ich eine affirmative Kunst erwartet. Aber das Gezeigte ist weder harm- noch anspruchslos, sondern wirft prächtige Fragen an die Bilderkultur und eigene Schaulust auf. Um das gesamte Programm in sich aufzunehmen, braucht es allerdings viel Zeit und warme Kleidung. Ich fühlte mich jedenfalls für eine gute Stunde am Mittelpunkt der Kunstwelt (oder doch zumindest beinahe). Die Provinz zeigt sich von ihrer weltläufigen Seite, zieht Linien in mehrere Kontinente. Wenn Ihnen der Weg zu weit und das Wetter zu entmutigend ist, können Sie auf Vimeo einen Eindruck von den Lichtspielen gewinnen. Am meisten fesselte mich die sonnige Schattenprozession von Kentridge. Ich las, dass sie auch im EYE Filmmuseum in Amsterdam gezeigt wird. Das wollte ich ohnehin schon seit Jahren mal besuchen. Das Ferne liegt manchmal so nah.

Meinung zum Thema

Kommentare

Sehr geehrter Herr Midding,
vielen Dank für Ihren sehr persölichen und gut reflektierten Erfahrungsbericht vom Silvesterbesuch auf der lichtsicht.
Über Ihren Beitrag haben wir uns sehr gefreut. Vielleicht ermutigt er ja noch einige Menschen, sich das Großereignis der Weltkunst bis zum 7. Februar anzusehen, trotz des Winterwetters.
Sabine Weichel
Presserepräsentantin lichtsicht

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