Eine Verlustanzeige

Aushangfoto von »Meine Lieder – Meine Träume« (1964)

Vor zwei Tagen erhielt ich den Anruf eines alten Freundes, der mich schlagartig daran gemahnte, wie achtlos wir doch durch die Welt gehen. Wir haben uns so sehr im Gespinst des Alltags verfangen, dass wir den Wandel der Gewohnheiten gar nicht mehr bemerken. Die Gegenwart hält uns in so festem Klammergriff, dass wir längst vergessen haben, was uns einst so vertraut war.

Diese schwierwiegenden Gedanken wurden durch eine eigentlich harmlose Frage ausgelöst. Seit wann eigentlich, wollte mein Freund Heiko wissen, gibt es in Kinos keine Aushangfotos mehr? Die Evidenz dieser Beobachtung erschütterte mich so sehr, dass ich ihm die Antwort erst mal schuldig bleiben musste. Er war mithin gezwungen, sie sich selbst zu geben. Seit dem Aufkommen der Multiplexe, vermutete er. Das schien mir schlüssig, denn Kinos, die mehrere Filme zur gleichen Zeit zeigen, haben gar nicht den Platz, diese durch mehr als nur das Plakat voneinander zu unterscheiden. Dort ist man ja auch viel zu sehr mit dem Kauf von Limonade, Chips oder Popcorn beschäftigt, um sich von einem Film eine genaueres Bild machen zu wollen.

So zufriedenstellend diese Antwort vorerst war, ließ mir die Frage dennoch keine Ruhe. Wie ist es möglich, dass eine feste Größe des Kinobesuchs verschwinden konnte, ohne dass es mir aufgefallen wäre? »Oops, stimmt – es gibt sie nicht mehr,« lautete dann auch die erste Reaktion auf eine kleine Umfrage, die ich unter Freunden und Kollegen veranstaltete. Den meisten ging es genau wie mir, sie hatten das Ableben dieses einst unumgänglichen Blickfangs nicht bemerkt. Liegt das daran, dass es schleichend vonstatten ging? Oder ist es rabiateren Verdrängungsprozessen anzulasten?

Einige der Befragten wollten Gegenbeispiele ins Feld führen. Ein Redakteur antwortete, es sei entschieden zu früh für einen Nachruf auf das Aushangfoto, Statt dessen solle ich ihm lieber die Nekrologe auf den einen oder anderen Filmkünstler liefern, die wir schon vor langer Zeit verabredet hätten. Aber auch er wurde nicht recht fündig. Tatsächlich käme in Berlin nur noch eine Handvoll Kinos infrage. Vor einem stand ich gestern Nachmittag nach einer Pressevorführung – und sah den Befund meines alten Freundes bestätigt: Lauter Plakate, kein einziges Foto! Für die anderen gilt allenfalls, dass sie die verschollene Tradition aufrechterhalten, wenn sie Reprisen alter Filme zeigten. Das »Eva« in Wilmersdorf kommt einem da sofort in den Sinn, das nach wie vor wacker die Erinnerungen seines betagten Publikums an frühe Kinoerlebnisse wachhält. Das Bundesplatz-Kino, das aktuelle Filme zeigt, verzichtet nach wie vor nicht auf sie. Auch das »International« habe noch Schaukästen, berichtete ein befreundeter Regisseur, der ansonsten das Internet verantwortlicht machte, womit man ja selten falsch liegt. Kinogänger schauten sich heute halt dort die Trailer an, um sich für oder gegen einen Film zu entscheiden. Und die Verleiher, das wusste er aus einschlägiger Erfahrung, würden gern an allem sparen, was nicht digital ist; Fotoabzüge auf Papier verursachten überflüssige Kosten. Das »Babylon« in Mitte wäre meines Erachtens noch ein Kandidat. Immerhin ist mir nachhaltig im Gedächtnis, wie eine Angestellte dieses Kinos vor einigen Jahren während eines Kongresses der Kommunalen Kinos ein Regelwerk dafür festlegen wollte, mit welchen Aushangfotos man die größte Aufmerksamkeit für einen historischen Film weckt. Ihre Ausführungen stießen damals auf zum Teil heftigen Widerspruch. Dass man einen Farbfilm nun einmal nicht mit Schwarzweißmotiven bewerben darf, lässt sich dennoch nicht von der Hand weisen.

Ihre Worte weckten lebhafte Kindheitserinnerungen. Als jungem Kinogänger fiel mir häufig die fahle Farbgebung vieler Szenenfotos aus älteren Filmen auf. Das mussten ursprünglich schwarzweiße Motive gewesen sein, die nachkoloriert wurden. Daheim probierte ich dies sogleich mit Buntstiften aus und erzielte annähernd den selben Effekt. An dieser Stelle muss ich gestehen, dass ich Aushangfotos immer als Selbstverständlichkeit wahrgenommen - sie stellten oft einfach die erste Begegnung mit einem Film dar – und nie als begehrenswerte Objekte betrachtet habe. Mithin wäre ich nicht auf die Idee gekommen, sie zu stehlen. Da war die Leidenschaft Francois Truffauts für derlei Fetische schon größer, wie man in »Die amerikanische Nacht« sehen kann. Ich frage mich, ob der Erwerb seltener Schaukastenfotos heute noch ein nennenswertes Sammlerglück bedeutet. Gerade hat das Filmmuseum in Frankfurt ja eine Sammlerbörse veranstaltet. Es würde mich interessieren, wie rege der Tauschhandel mit Fotos dort war. Bei einer Internetrecherche führte mich die Suchmaschine zuerst zu ebay, wo ich erstaunlich informative Anmerkungen zu diesem Gegenstand fand. Sie müssen von einem echten Liebhaber stammen. In ihnen ist von »Kinoschaulust um das Plakat herum« die Rede, der Text erinnert daran, dass Fotos nicht nur in den Schaukästen, sondern auch den Vorsälen der Kinos hingen. Die Anzahl der Motive wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt reduziert. In den 60ern stellten die Verleiher den Kinos sage und schreibe 30 zur Verfügung, in den 80ern in der Regel noch rund ein Dutzend, danach genügten vier bis acht. Das alles habe ich miterlebt. Wie konnte ich es nur vergessen?

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Wenn sie geliefert werden, werden sie auch sehr gerne im "Schauburg-Filmpalast" in Gelsenkirchen ausgehängt.

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