Friedenswächter

Obwohl sie letztlich unter einem guten Stern steht, lässt sich die Weihnachtsgeschichte erst einmal denkbar schlecht an. Sie steckt voller Unbill und Missgeschicke. Mitten im tiefsten Winter müssen Maria und Josef wegen einer verdrießlichen Volkszählung ihre Heimatstadt verlassen. In Bethlehem finden sie keine Herberge mehr und müssen in einem Stall übernachten. Und dann kommt Maria auch noch zur Unzeit nieder.

Bekanntlich nehmen die Ereignisse trotz aller Widrigkeiten einen glücklichen Verlauf. Ochs und Esel leisten der Familie gute Gesellschaft. Es kommen freundliche Hirten zu Besuch und überdies drei Könige, die prächtige Gaben mitbringen. Jesu' Stallgeburt entwickelt sich zu einer veritablen Erfolgsgeschichte. Wird sich dies im Nachhinein auch über...

An dieser Stelle komme ich seit zwei Tagen nicht weiter. Dabei schien eigentlich klar, wohin die Reise gehen soll. Etliche Varianten habe ich erwogen, um zum eigentlichen Thema dieses Eintrags zu kommen. Aber es will mir partout kein eleganter Übergang gelingen. So etwas kommt häufig vor. Bisweilen sind die Gründe für das Zögern sogar interessanter als das, was man am Ende schreibt. Mitunter bleibt man schlicht aus Trägheit in derlei Unschlüssigkeit verhaftet. Ich könnte es auf die Feiertage schieben. Meist sind solche Blockaden aber einer tieferen Ratlosigkeit geschuldet, einem Unbehagen, das es genauer zu bestimmen gilt. In diesem Fall könnte es der Umstand sein, dass das "eigentliche Thema" nur ein Anlass, aber noch kein Thema ist. Der Übergang, an dem ich so kläglich scheiterte, sollte zum Trubel um den US-Kinostart von The Interview führen. Das Aufsehen, das dies Geschehnis gerade auch in deutschen Medien erregt, ist wirklich erstaunlich: Sogar in der "Tagesschau" und "heute" wurde die Absage von Sony zum Aufmacher, zur ersten Nachricht, die wichtiger schien als alle anderen.

Bestimmt gelang mir keine elegante Überleitung, weil es bereits meinen Gedanken an Eleganz gebrach; auch an moralischer: Ist es nicht reichlich frivol, hierfür die Weihnachtsgeschichte als Präludium zu benutzen? Natürlich hätte ich mich da gewappnet, wäre der Frage nachgegangen, warum das Kino bisher nie ihr Potenzial an Situationskomik ausgeschöpft hat - wo sind Monthy Python, wenn man sie braucht? In der Folge hätte ich festgestellt, dass man heutzutage, der commedia all'italiana sei es gedankt, tatsächlich über alles Komödien drehen kann und darf, also auch über den Attentatsversuch an einem Diktator.

Eine andere Variante wäre medienkritisch ausgefallen. Womöglich hätte sie sich an dem Tonfall des Hoheitswissens abgearbeitet, der aus vielen Artikeln zumal hier zu Lande herauszuhören war. Kritiker schrieben da ausführlich über einen Film, den ihr Publikum eventuell nie zu sehen bekommt und somit auch keinen Einspruch erheben konnte; für einmal durften sie die Sorge über einen spoiler alert außer Acht lassen. Es wäre durchaus angebracht gewesen, die Atemlosigkeit der Berichterstattung zu beklagen, wo jede neue Wendung einen weiteren Artikel wert schien, bis endlich auch der letzte Tropfen aus der Zitrone gepresst. Auch die Spekulationen trotz ungesicherter Faktenlage hätte mich in dieser Version beschäftigt: Wie hoch schlagen die Verluste nun tatsächlich zu Buche, falls Sony den Film nicht herausbringt? Die Angaben schwanken zwischen unerheblich (falls eine Versicherung zahlt), rund 45 Millionen (die Produktionskosten) und mehreren hundert Millionen Dollar (kreative Buchführung).

In einer weiteren Variante hätte ich dem Studio mein Mitgefühl ausgesprochen, da ich selbst vor einiger Zeit Opfer von Cybervandalismus wurde (einem Angriff durch böse ad ware). Ich hätte darüber spekuliert, ob man dort nun tatsächlich wieder zu Kugelschreiber und Papier zurückkehren muss und mich wohl eingehend über die Enthüllungen ausgelassen, die im Zuge des Datendiebstahls bei Sony bekannt wurden. Ich hätte mein Wohlgefallen über die Idee ausgedrückt, Idris Elba zum neuen Bond zu befördern (sofern ihn dies nicht von reizvolleren Aufgaben wie einer neuen Staffel von Luther abhalten würde) und mein Missfallen über die kleinere Gewinnbeteiligung der weiblichen Stars von American Hustle. Vermutlich wäre das die unglücklichste Lösung gewesen, da ich so das Spiel der Datendiebe mitgespielt hätte und die eigentliche Nachricht, die Infamie ihrer Attacke, ausgeblendet hätte.

Mir lag auch eine Philippika gegen die Feigheit Hollywoods auf der Zunge. Da hätte sich leicht eine Überleitung finden lassen, schließlich zielt die Weihnachtsgeschichte ja darauf, ihrem Publikum Mut zuzusprechen. In dieser Version wäre es um verschiedene Arten von Zensur gegangen. Die wirtschaftliche gehört ja zum Tagesgeschäft der Filmindustrie - man denke nur an die zahllosen Projekte, aus denen nie etwas wird, weil sie zu teuer oder unkommerziell sind. Eine politische Zensur wird gern abgestritten, zieht sich aber durch die Geschichte der Filmmetropole. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, den Stab darüber zu brechen, wie häufig die Studios schon Erpressungsversuchen nachgegeben haben, etwa während der Zeit der Schwarzen Listen. Auch neuere Erkenntnisse über ihre Haltung zu den Nazis hätten einfließen können, etwa die Anstrengungen von MGM und anderen, ihre Geschäftsinteressen in Deutschland so lange wie nur eben möglich, sprich: bis zum Kriegseintritt der USA, zu wahren. Da es dieser Variante entschieden an Originalität gefehlt hätte, wäre ich versucht gewesen, eine meiner Lieblingsgeschichten zu diesem Thema einzuflechten. Sie handelt von Don Siegel, dem Regisseur von Invasion der Körperfresser und Dirty Harry, der jahrelang versuchte, Franz Werfels Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" zu verfilmen. Der Plan scheiterte, weil der Genozid an den Armenier nach Siegels Einschätzung das eine Thema war, an das sich niemand in Hollywood herantraut. Lag es daran, dass die Türkei für das US-Kino ein wichtiger Exportmarkt war? Wohl eher nicht. Die strategische Bedeutung des Landes während des Kalten Kriegs hingegen war immens. Da ich diese Geschichte nun erzählt habe, besteht kein Grund zu bedauern, dass diese Ausrichtung des Textes ebenfalls verworfen wurde. Ich hätte mich auch nicht recht wohl gefühlt in der Rolle des Anklägers. Denn wer weiß schon, wie er sich selbst verhalten hätte unter dem Druck, der in der Nazizeit oder während Senator McCarthys Hexenjagd herrschte?

All diese Texte sind Ihnen aus noch einem anderen Grund erspart geblieben. Denn mein Zaudern beruht aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer grundlegenden Ratlosigkeit: Ich hätte nichts Neues zu der Debatte um The Interview beitragen können. Den Film habe ich nicht gesehen. Und das eklatante Missverhältnis zwischen der Unerheblichkeit des Anlasses und der politischen Erregung ist Ihnen zweifellos in den letzten Tagen klar geworden. Nun läuft der Film doch in rund 300 unabhängigen Kinos und die Zuschauer dürfen sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit feiern. Die Drohungen der noch nicht identifizierten Hacker haben sich bisher glücklicherweise nicht erfüllt. Falls sich allerdings die Affäre zu einem ernsthaften Konflikt zwischen den USA und Nordkorea ausweiten sollte, wäre meine Eröffnung noch heikler geworden. Die Friedensbotschaft der Weihnachtsgeschichte bekäme eine Aktualität, die sich niemand wünschen mag.

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