arte-Mediathek: »Ein Engel verschwindet«

 »Ein Engel verschwindet« (Miniserie, 2017). © Hassen Brahiti/Pampa Productions

© Hassen Brahiti/Pampa Productions

Gottes vergessene Kinder

Mutter und Tochter haben dieselben Träume. Madeleine (Aurore Clément) hängt noch an der Illusion, den Beruf der Tänzerin ergreifen zu können. Ihre zehnjährige Tochter Aurore (Mélody Gualteros) will es schaffen. Sie stiehlt einen Walkman, um eine Choreographie einzuüben. Die soll ihr den Absprung ermöglichen aus der Hochhaussiedlung in der südfranzösischen Camargue, wo die beiden wohnen. Wenn ihre Mutter der Prostitution nachgeht, muss Aurore die Wohnung verlassen. Dann streift sie durch die Gegend, über Brachen, an den Salinenbecken entlang. Sie schwänzt die Schule, ihrer Mutter sei das egal.

Aurore wächst in einer lieblosen Umgebung auf, missachtet, so sehr vernachlässigt, dass sie andere Kinder um Essbares bitten muss. Seit Stunden quält sie der Hunger. Der kleine Paulo und dessen Schwester Maya wurden von ihrer älteren Schwester auf dem Spielplatz alleingelassen. Aurore lotst den Vierjährigen in eine Fabrikruine, verlangt die Hälfte seiner Kekse. Paulo weigert sich, beißt das Mädchen, das ihm im Gegenzug den Hals zudrückt. Gemeinsam mit dem Nachbarsjungen Chris wirft sie die Leiche in einen See. Die zweijährige Maya hat das Ganze heimlich beobachtet. Das Gesehene wird sie ihr Leben lang verfolgen.

Nach dem Auffinden der Leiche wird Aurore schnell überführt. Polizistin, Psychologin, Fürsorger verzweifeln an dem scheinbar völlig gefühlskalten Mädchen. Sie wird in ein Erziehungsheim eingewiesen.

Wäre »Ein Engel verschwindet« ein Kinofilm, müssten diese Vorgänge eilig als Exposition umrissen werden. Laetitia Masson nimmt sich 55 Minuten – die Laufzeit der ersten Folge des Dreiteilers. Auf den ersten Teil »Die Kindheit« folgen »Die Gespenster« und »Requiem«, in denen Masson die Geschichte mit der erwachsenen Aurore – Élodie Bouchez übernimmt – fortführt. Die frühere emotionale Kälte scheint überwunden. Unter neuem Namen arbeitet Aurore als Köchin, nun selbst Mutter einer fünfjährigen Tochter namens Rose, alleinerziehend. Ihr Leben wird erschüttert, als ein – etwas zu schmierig geratener – Journalist ihre Vorgeschichte öffentlich macht. Sie verliert ihre Stelle, Rose wird in der Schule gepeinigt. Aurore färbt sich die Haare und verlässt die Stadt in der Hoffnung auf Hilfe durch den Musiker Léonard (Maurice Greene), der damals im Erziehungsheim Englisch unterrichtet hatte. Durch den Zeitungsbericht ist indes auch Maya auf Aurore aufmerksam geworden. Und heftet sich an ihre Fersen.

Masson verzichtet dankenswerterweise auf Psychothrillermätzchen. Die Psychologie der Haupt- wie einiger Nebenfiguren ist komplex. So lässt Masson nicht unerwähnt, dass Aurores Mutter selbst als Pflegekind aufwuchs. Stabile Familienverhältnisse kennt sie nicht, sie hat soziales Verhalten nie gelernt. Ein Mord unter Kindern ist ein gewagtes Sujet. Laetitia Masson meistert es durch Empathie und Aufmerksamkeit. Randfiguren eingeschlossen.

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