Die Erben von Sherlock Holmes

Neue britische Miniserien
TV-Serie "Luther"

© Polyband

Das britische Fernsehen hat mit einer ganzen Reihe von Miniserien dem Krimi­genre zu einer neuen Blüte ­verholfen. Das Beste aus zwei Welten verbindend, den Luxus des Langzeit­erzählens mit kinogerechter Star­besetzung und cineastischer Gestaltung, gehören Titel wie »Luther« zum aufregendsten, was das Fernsehen derzeit zu bieten hat
Lauter kleine Napoleons: Am Anfang des 21. Jahrhunderts konzentriert sich kaum noch jemand auf einen einzigen Vorgang, jedes Schulkind orchestriert parallele Aktionen auf Smartphone, Computer und Fernseher und nimmt en passant auch noch an der wirklichen Welt teil. Die allgegenwärtige Aufsplitterung des modernen Lebens hat auch das filmische Erzählen verändert. Gerade kriminalistische Ermittlungen setzen sich da auf mehreren Ebenen aus parallelen Ereignissen zusammen. Statt einem Handlungsfaden in einer linearen Erzählung zu folgen, zappt man zwischen Opfern, Tätern und Ermittlern, springt zwischen verschiedenen Strategien und Ansätzen. Statt nur nach vorne zu drängen, wuchern die Geschichten immer stärker in die Breite, weshalb das klassische Zweistundenformat des Spielfilms aus allen Nähten platzt. Immer häufiger nähern sich Spielfilme der Dreistundenmarke, während parallel verschiedene Fernsehformate im erzählerischen Luxus von 10 bis 24 Stunden schwelgen. 
 
Das Format der Miniserie, das die Engländer in besonderem Maße kultivieren, ist ein zeitgemäßer Zwitter zwischen den aus­ufernden Konstruktionen der klassischen Fernsehserie mit ihren 12, 18 oder auch 24 Folgen pro Staffel und dem komprimierten Konstrukt eines Kinofilms. Sie verbinden das Beste aus beiden Welten und können mit ihren überschaubaren Drehzeiten auch auf hochkarätige Schauspieler zählen, die sich zugunsten einer Endlosserie nicht jahrelang von Theater und Leinwand lossagen wollen. So konnte Idris Elba neben den drei Staffeln »Luther« mit je vier beziehungsweise sechs Folgen zwischen 2010 und 2013 noch mit ­Ridley Scott Prometheus drehen, gleich zwei Mal Thor zur Seite stehen und unter der Regie von Justin Chadwick oscarverdächtig als Nelson Mandela brillieren.
 
Was in »Luther« auffällt, ist das Fehlen amerikanischer Zutaten wie Zigaretten, Whiskey und Schusswaffen, auch Pressekonferenzen und Barbesuche gibt es nicht. Dennoch ist DCI (Detective Chief Inspector) John Luther der amerikanischste unter den englischen Serienhelden. Von seinem Autor Neil Cross wird er als Kreuzung zwischen dem britischen Sherlock Holmes und dem amerikanischen Colombo beschrieben. Aus der Drogenszene von »The Wire« bringt Idris Elba amerikanischen Flair mit. Deutlich amerikanisch inspiriert sind auch die perfiden Serienmorde, um die es hier geht, allesamt Degenerationen der modernen Welt: ein Kindermörder, der seine Opfer kläglich ersticken lässt, ein Frauenmörder, der mit dem Blut seiner Opfer ganze Wände vollschreibt, Zwillingsbrüder, die die Regeln des Videospiels auf die Wirklichkeit anwenden, in der sie mit Hammer und Säure um den höchsten Score an zufälligen Menschenleben wetteifern. Sie treiben ihr Unwesen in einer düsteren, dreckigen, feucht schwitzenden Londoner Unterwelt mit lichtlosen langen Gängen, modrigen Kellern und Katakomben, verlassenen Industrieanlagen und Lagerhallen und in der gläsernen, sterilen Anonymität hypermoderner Bürohäuser. Die Kriminalfälle entwickeln sich wie Pokerspiele, in denen nie der mit den besten Karten gewinnt, sondern der, der den Gegner besser zu lesen weiß, und das ist Luthers Stärke. Dem Verbrechen setzt er seine massive Gestalt, die fiebrige Naturgewalt seines Temperaments und eine unerbittliche Entschlossenheit entgegen. Wie so oft in den britischen Serien liegt auch hier der besondere Reiz in den komplexen menschlichen Beziehungen. Weil Luther im Dienst der Sache bedingungslos an die Grenzen der Legalität geht, gerät er immer wieder zwischen alle Fronten von Gesetz und Verbrechen und ist gezwungen, auch außerhalb der Polizeiwache außergewöhnliche Allianzen zu schließen, zum Beispiel mit einer hochintelligenten Elternmörderin (Ruth Wilson). Und so wie im Newsroom von »The Hour« sowie bei der Verbrechensbekämpfung von »Sherlock« und in der »Ripper Street« ist auch hier die Sprache ein schillerndes Instrument der Wahrheitssuche.
 
So wie Luther führt die Sehnsucht nach Gerechtigkeit im Sumpf des Verbrechens auch P. C. (Police Constable) John Paul Rocksavage, den die Kollegen in »Good Cop« Sav nennen, zunehmend an die Grenzen des Rechtsstaates. Während Idris Elba als Luther zwar von den Spuren seines zermürbenden Kampfes gezeichnet ist, aber dennoch eine brachiale Power verströmt, verleiht Warren Brown (der nach Nebenrollen in »Inside Men« und »Luther« hier in einer Serienhauptrolle zum Spiegel der Ereignisse wird) seinem Liverpooler Straßenpolizisten vor allem liebenswerte Menschlichkeit und einen jungenhaften, fast rührenden Charme. Im Kontrast zum Gros der Polizeiserien, die sich derzeit auf Ermittlungsprozesse konzentrieren, lotet Autor Stephen Butchard (bekannt geworden mit der True-Crime-Mini-Serie »Five Daughters«) stärker die menschlichen Dimensionen der Polizeiarbeit aus, die alltägliche Gratwanderung zwischen Gesetz und Verbrechen. Auch der harte Streifenpolizeiall­tag auf den Straßen von Liverpool ist mit dokumentarischem True-Crime-Flair versetzt. Gleich hinter der ersten Tür, an der die beiden Streifenpolizisten nach einem Notruf klingeln, finden sie ein totes Baby. Als Rocksavage nach Dienstschluss im Pub den prollig gewalttätigen Anführer einer Kleingangsterbande dabei beobachtet, wie er die Kellnerin bedrängt, kann er gar nicht anders als einschreiten. Damit allerdings setzt er folgenschwere Ereignisse in Gang, denn noch in derselben Nacht nimmt Noel Finch ­(Stephen Graham aus »Parade’s End«) Rache, indem er Savs Partner in einen tödlichen Hinterhalt lockt und ihn zum hilflosen Zeugen macht. Die Trauer um den Verlust des Freundes und die Wut auf die Schläger bringen die simmernden Belastungen der Polizeiarbeit zum Überkochen. Hinter der Polizeigeschichte eröffnen sich Westernelemente. Der brave Cop wird zum einsamen Rächer in der Nacht. Doch Warren Brown macht Rocksavage nicht zum selbstgerechten Lynchmörder, sondern zu einem von Gewissenskonflikten zerrissenen Menschen. Zu den schönsten Momenten gehören die Begegnungen mit seinem sterbenskranken Vater, mit dem er in verschlüsselter Form immer wieder seine inneren Zweifel thematisiert: »Und was ist, wenn ein guter Mensch gezwungen ist, schlechte Dinge zu tun?«
 
Jenseits schlichter Schwarz-Weiß-Malereien ist in diesen Miniserien immer wieder Raum für widersprüchliche Gefühle, das gilt auch für »The Fall«, erschaffen von Allan ­Cubitt, der zuvor unter anderem die Serie »Murphy’s Law« kreiert hat: Gillian Anderson spielt Metro-Police Superintendent Detective Stella Gibson mit der kühlen Unnahbarkeit und stählernen Entschlossenheit, die sich Frauen in Männerberufen aneignen. Sie wird aus London eingeflogen, um die Polizei von Belfast bei der Suche nach dem Killer erfolgreicher allein lebender Karrierefrauen zu unterstützen. Nachdem für den Zuschauer sehr schnell geklärt ist, wer der Mörder ist, lotet die Serie vor allem die Ähnlichkeiten zwischen Ermittler und Täter aus, deren Handlungen immer wieder in Parallelmontagen aufeinander bezogen werden. Beide sind von starken Jagdinstinkten getrieben, die der Mörder auf seine Opfer und die Ermittlerin auf den Täter richtet. So sorgfältig, bedacht und gründlich, wie er seine Opfer auswählt, tötet und anschließend positioniert, orchestriert sie die Suche nach ihm. Auf befremdliche Weise zeigt der Täter in seiner Arbeit als Berater von Trauernden und als liebevoller Familienvater menschliche Regungen und Gefühle, die in krassem Gegensatz zur methodischen Brutalität des Tötens stehen. »Even a multiple murderer can have his share of good qualities or a pretty face«, bringt es Gibson einmal auf den Punkt. Und doch stockt einem der Atem, wenn der Killer seiner kleinen Tochter die Kette einer ermordeten Frau schenkt und die Trophäen seiner Taten auf dem Dachboden über ihrem Bett verstaut. Jamie Dornan spielt ihn mit einem elastisch wiegenden schweren Gang wie ein lauerndes Raubtier, und hat sich mit seinem sinistren Sex-Appeal auch gleich für die Hauptrolle der Verfilmung von »Fifty Shades of Grey« empfohlen.
 
»The Last Enemy« erzählt von einer wuchernden Verschwörungsaffäre, die sich aus virulenten innen- und außenpolitischen Themen speist: Obwohl die Miniserie bereits 2008 lanciert wurde, hat sie vor dem Hintergrund des NSA-Skandals und allgegenwärtiger Debatten über Datensicherheit und Überwachung gerade heute brisante Aktualität. Einige Jahre vor »Parade’s End« und »Sherlock« spielt Benedict Cumberbatch hier eine Variation seiner hyperintelligenten, distanziert unnahbaren bis zwangsneurotischen Figuren, den Wissenschaftler Stephen Ezard, der aus China nach London zurückkehrt, um seinen älteren Bruder zu beerdigen, der in Afghanistan einer Landmine zum Opfer gefallen sein soll. Zusammen mit Stephen muss sich auch der Zuschauer in einer beklemmenden Zukunft zurechtfinden, in der die Science-Fiction des gläsernen Menschen längst Realität geworden ist. Gleich am Flughafen werden die Augen des Ankömmlings gescannt und wird sein Pass zum Datenabgleich in ein Lesegerät eingeführt. Die realen Überwachungsmechanismen mit allgegenwärtigen Kameras im Londoner Straßenbild sind verschärft, die Regierung ringt gerade um das Votum für ihr erweitertes Computerüberwachungssystem  TIA. (Total Information Awareness), das engmaschige Fahndung und Festnahme von Straftätern und Verdächtigen perfektioniert, was Stephen bald schmerzlich zu spüren bekommt. Zunächst arglos neugierig, dann zunehmend alarmiert versucht er, mehr über das Leben seines Bruders zu erfahren, zu dem er in den vergangenen Jahren keinerlei Kontakt hatte. Familiäre Betroffenheit mündet in ein beunruhigendes Regierungskomplott um einen mysteriösen Virus und in Afghanistan entwickelte Biowaffen. Gelingt es Stephen am Anfang noch, das System zu unterwandern und die Mechanismen der umfassenden Überwachung für seine eigenen Zwecke zu nutzen, so zieht sich das Netz zunehmend enger um seinen eigenen Hals, sein Bewegungsradius wird beschnitten, seine Identifikationskarte eingezogen und seine Bankkarte gesperrt. Schon jede Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist tückisch, da er durch einen Chip unter der Haut einen Alarm auslöst, der eine Soldatentruppe ausschwärmen lässt: Big ­brother is watching you. Die Demokratie ist in »The Last Enemy« zur gar nicht mehr so utopischen Diktatur mutiert, die Science-Fiction-Visionen von Gattaca und In Time sind in beklemmende Nähe gerückt. 
 
Enger gesteckt ist der Rahmen im kleinen britischen Küstenörtchen »Broadchurch«, wo die Ermittlungen in einem eher kleinen Kriminalfall weite Kreise durch alle Schichten der Gemeinde ziehen. Entwickelt wurde die aus acht Folgen bestehende Serie von Chris Chibnail, der sich als Autor des »Dr. Who«-Relaunches einen Namen gemacht, einige »Torchwood«-Episoden geschrieben hat und bereits an der originellen Serie »Life on Mars« beteiligt war. »Life on Mars« ist jene Serie, in der sich ein Polizist aus Manchester nach einem Autounfall überraschend in den 70er Jahren wiederfindet, in denen er mit den Errungenschaften der Zukunft einiges bewegen kann und auch Marc Bolan schon vor seinem Durchbruch als Star erkennt.
 
Von hinten nähert sich die Kamera einem Kind, das am Abgrund steht, doch bevor es fällt, wacht die Mutter aus ihrem Alptraum auf, der damit allerdings noch nicht zu Ende ist. Mit einer ungeschnittenen langen Fahrt taucht man in den Alltag des kleinen britischen Küstenörtchens ein, das der Serie den Titel gibt, vorbei an den Bewohnern, hier ein kurzer Gruß, da ein knapper Wortwechsel. Beim Schulfest erfährt die Mutter, dass ihr Sohn nie in der Schule angekommen ist. Als sie auf ihrer Suche in einen Stau gerät, verdichtet sich eine furchtbare Ahnung, die jedes Gefühl von Alltäglichkeit zerschellen lässt, denn der Junge ist nicht einfach nur von der Steilküste gefallen, er wurde ermordet. 
 
Mehr als um die Lösung des Falls geht es in »Broadchurch« um die Nachwirkungen in den Familien, unter den Freunden und in der Dorfgemeinschaft, um Trauer, Schmerz, Misstrauen, Angst und Paranoia. »Anybody is ­capable of murder, given the right circumstances«, sagt der Cop, der aus der großen Stadt strafversetzt wurde und für böses Blut sorgt, weil er der lokalen Polizistin die sichere Beförderung zum Detective Inspector wegschnappt. Viele früh eingepflanzte Verdachtsmomente brodeln unter der Oberfläche, bis sie hochkochen, wobei die Dichte an zwielichtigen Gestalten unglaubwürdig hoch ist – lauter Menschen mit dunkler Vergangenheit, die sie zu potenziellen Kinderschändern und -mördern stempelt. Sehenswert ist die Serie schon wegen der atemraubenden Landschaft des Schauplatzes, mit quellenden Wolken im blauen Himmel und wogenden Gräsern an der Küste, vor allem aber wegen des schillernden Verhältnisses zwischen den beiden zentralen Ermittlern: der lokalen Polizistin Ellie Miller (Olivia Colman), die mit der Mutter des Opfers befreundet ist, und dem zugereisten Inspector Alec Hardy (David Tennant). In einem Wechselbad aus Angriff und Verteidigung, aus Nähe und Fremdheit, aus Respekt und Missgunst arbeiten sie immer zugleich zusammen und gegeneinander. Wichtige Impulse gehen auch hier von der lokalen Zeitungsredaktion aus, die bald von der Sensationspresse aus der Metropole flankiert wird: Es ist kein Zufall, dass die Gründlichkeit investigativer Recherche das vielschichtige Netz der Seriengeschichten immer wieder befeuert.
 
Zeit ist der große Luxus des Fernsehens, die Kriminalgeschichten, die Autor Tony ­Basgallop in den Miniserien »What Remains« und »Inside Men« erzählt, könnte man sich gut im Kino vorstellen, nur wäre da kein Raum für den langen Atem und die vielen Details, die sich in vier mal sechzig Minuten entfalten können. Die Heist-Geschichte von »Inside Men« entwickelt sich im raffiniert konstruierten Spannungsbogen zwischen Planung, Ausführung und Nachspiel zwischen Januar und Oktober in Bristol und wartet mit einem ausgesprochen gewitzten Twist auf. John ist Leiter eines »counting house«, in dem riesige Mengen von Scheinen verwaltet werden. »My husband is no hero«, sagt seine Ehefrau über ihn aus und trifft mit diesem kleinen Satz ganz beiläufig und vieldeutig den Nerv der Serie. John ist ein unscheinbarer Mann, den Steven Mackintosh grandios zwischen scheuer Kläglichkeit und mutiger Entschlossenheit oszillieren lässt. Er hat zwei kleine Angestellte (Warren Brown und Ashley Walters) beim Klauen erwischt und schlägt ihnen einen sehr viel größeren gemeinsamen Deal vor, einen ausgeklügelten Heist, in dem die riesigen Mengen Scheine, die sich in den Rollkäfigen stapeln, letztlich nur eine Nebenrolle spielen. »Lying is wrong«, sagt seine Tochter. Verstrickt in sein eigenes radikales Coming-of-Age sagt er als Vater etwas ziemlich Unerhörtes: »Es ist und es ist es doch wieder nicht. Sieh, wenn du immer die Wahrheit sagst, würde sich niemand an dich erinnern. Die Wahrheit bringt einen nicht dahin, wohin man will.« 
 
So wie in Spike Lees Inside Man spricht der Räuber den Zuschauer auch hier ganz direkt an, warum ihm natürlich auch nur bedingt zu trauen ist. Um was geht es wirklich? Geld ist es jedenfalls nicht. Die britischen Miniserien sind immer wieder gut für Überraschungen.
 

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