Mozi: eine Liebeserklärung

Es gibt Behauptungen, an denen hat man so viel Vergnügen hat, dass man ihren Wahrheitsgehalt gar nicht überprüfen mag. Gehen wir also getrost davon aus, dass fünf von zehn Ungarn "Die Zeit steht still" als ihren Lieblingsfilm nennen. Esther Kinsky war immerhin fest davon überzeugt, als sie ihre wunderbar kinosüchtiges Buch "Weiter Sehen" schrieb.

Ihre Behauptung hat eine Menge für sich, denn der Film, den Péter Gothár 1982 drehte, handelt von Figuren, die sich nach 1956 mit den politischen Umbrüchen zurechtfinden müssen. In ihrem Schicksal und ihrem Ringen konnten sehr, sehr viele Ungarn ihre eigenen Erfahrungen wiederfinden. Das ließe sich natürlich durch Umfragen ermitteln. Aber mir gefällt bereits die Vorstellung, dass es so etwas wie einen landesweiten Lieblingsfilm geben könnte. Einfach schon, weil daraus eine geteilte Begeisterung spricht, ein gemeinschaftliches Erlebnis. Darauf zielt die gar nicht so heimliche Sehnsucht dieses Buches, das man nicht recht einen Roman nennen will – man fragt sich ständig, ob das Erzählte wirklich eine Erfindung ist -, aber als Essay ebenso unzureichend beschrieben ist. Seit "Weiter Sehen" vor zweieinhalb Jahren erschien, stand es auf meiner Leseliste, blieb aber eine gestundete Lust, bis ich die Autorin kennen lernte.

Das war Ende September, als das Filmhaus Nürnberg ein schönes Jubiläum feierte und Kinsky die Einführung zu "L' Atalante" von Jean Vigo halten sollte. Den folgenden Film analysieren wolle sie nicht, kündigte sie zu Beginn an. Ein Kritiker hätte sich eine solche Freiheit wahrscheinlich nie genommen, aber ihr als Schriftstellerin stand mehr da Phantasie zu. Vielmehr wollte sie ganz allgemein über die Faszination des Kinos sprechen. Sie ging zu dessen Anfängen zurück, als das Publikum innig durch das Staunen verbunden war ("eine Regung, die heute viel zu wenig berücksichtigt wird"). In der Folge stellte sich heraus, dass sie und ich zwei gemeinsame Lieblingsmuseen haben, das Institut Lumière in Lyon und das Museo Nazionale del Cinema Torino. Dort konnte sie ihrer Liebe zu den physischen Aspekten des Mediums, seiner rätselhaften Technik nachgehen – in Lyon sind es die Erfindungen der Brüder, die Ausstellung in Turin legt einen Schwerpunkt auf dessen zauberische Vorgeschichte. Natürlich kam sie doch auf "L' Atalante" zu sprechen, als frühenmTonfilm, in dem vor allem noch die Kamera erzählt und als ein Werk, das ästhetisch wie emotional bewegt. Der Film, da sprach sie wieder allgemein, brauche die Dunkelheit, aus der heraus er leuchtet.

Eine Mitarbeiterin des Filmhauses hatte mir kurz zuvor voller Enthusiasmus von dem Buch erzählt, das Kinsky einige Jahre zuvor dort vorgestellt hatte. Mein bisheriges Versäumnis erschien mir nun umso beschämender, was ich der Schriftstellerin dann sofort eingestand, als ich mich ihr vorstellte. "Aber Sie müssen es nicht lesen", erwiderte sie bestimmt. Ich widersprach ihr entschieden: Doch, unbedingt. Leider fuhr sie nach der Vorführung stracks mit dem Nachtzug nach Wien zurück, wo sie lebt. Jedoch hat sie auch einen Wohnsitz im Friaul, bei Udine (wo ein Festival des asiatischen Films beheimatet ist, das einige frankophone Freunde glühend lieben) und nicht weit von Pordenone, wo in jedem Herbst das famose Stummfilmfestival veranstaltet wird, über das ich gern noch mit Esther Kinsky gesprochen hätte. Am nächsten Tag suchte ich die Nürnberger Innenstadt nach ihrem Buch ab, das ich dann aber doch erst zurück in Berlin fand.

Sein Titel hat unbedingt mit der Landschaft zu tun, in der er spielt. Aber er ist auch als Metapher von Belang: "Die Weite ist mehr als Ferne", schreibt Kinsky", sie ist das, was man an Möglichem zulässt. Die Erzählerin, man kann nicht aufhören, in ihr die Autorin zu vermuten, reist von Budapest ins Alföld, die ungarische Tiefebene. Das Land ist so flach, heißt es. dass man die Hauptstadt sehen könnte, würde man sich auf einen Kürbis stellen. Die Region ist aber auch ein Schmelztiegel der Ethnien, ein Erbe der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. In einem ziemlich gottverlassenen Dorf entdeckt sie ein Filmtheater, das seit langer Zeit geschlossen ist und verfällt. Es heißt Mozi, was einfach das ungarische Wort für Kino ist. Etlichen Bewohner ist sein Betrieb noch lebhaft in Erinnerung, hier sahen sie ihre Leinwandidole, deren Namen längst verblichen sind, auch Eheschließungen und andere Lebensereignisse verbinden sich mit dem Ort. Nun entbrennt eine neue Liebesgeschichte: Die Erzählerin will dieses "Prachtkino in einem Niemandsland der Möglichkeiten" wiederbeleben. Auf den Strecken eigener Fotos, die ins Buch eingestreut sind, mutet es ganz anders an, als ich es mir beim Lesen vorstellte, heller, intakter, gegenwärtiger. Gleichviel, nun beginnt für die Erzählerin ein tragikomisches Abenteuer. Sie stellt alles auf Anfang, findet tatkräftige Unterstützung und steht vor einem Berg von Problemen.

Als er irgendwann, es dauert mehrere Jahreszeiten, überwunden ist, stellt sich ihr die Frage, was sie denn dort zeigen soll? Eine dezente tour d' horizon der ungarischen Filmgeschichte zieht sich durch das Buch, einige Namen (Béla Tarr, Márta Mészáros) sind vertraut, andere gehören ins Reich der Archäologie. Sie alle wecken Schaulust. Ihre endgültige Wahl des Eröffnungsfilms scheint triftig, klug ist sie allemal: "Mein 20. Jahrhundert" von Ildikó Enyedi. Der Titel ist zweischneidig, immerhin schreibt Kinsky: "Das Kino war der Schauplatz eines Jahrhunderts." Die Vergangenheitsform ist entscheidend, denn letztlich blickt sie auf etwas zurück, das im Verschwinden begriffen ist. Das Kino betrachtet sie als einen geschichtenstiftenden Ort, einen, "an den man die eigene Einsamkeit trug". Man machte sich filmhungrig auf den Weg, schreibt sie, und danach filmsatt auf den Heimweg. Ein Ort indes, der keinen Ersatz gefunden hat. Ein Rückzugsgefecht also, dem tiefe Melancholie anhaftet?

Freilich birst Kinskys Buch vor Cinéphilie; sein Erlebnisreichtum ist brandaktuell. Meine Lektüre gewann eine zusätzliche Dringlichkeit, als ich den Auftrag erhielt, über Kinoabonnements zu schreiben (für das Dezemberhaft von epd film), die mir als eine neue Chance für die Cinéphilie erscheinen. In "Weiter Sehen" erzählt sie von dem, was ich in Nürnberg die "Grundversorgung" nannte (das Wort beschäftigte sie), womit ich Kinos als den oft letzten verbliebenen Ort der kulturellen Begegnung auf dem Land meinte. Die Handlung ihres Buches spielt um die Jahrtausendwende und blendet am Schluss dann in die Gegenwart voraus. In der Zwischenzeit, 16 Jahre sind seit ihrem "Kinosommer" vergangen, hat die Erzählerin überall Kinos sterben sehen. Ohne sie explizit zu benennen, beklagt sie die vorgegaukelte Vielfalt der Streamingportale. Das "Was" zählt mehr als das "Wie". Unter Ersterem verstehe ich das, was die Branche selbstvergessen "Content" nennt. Das Zweite ist das unersetzliche Erlebnis, wenn alle Blicke in Richtung Leinwand gehen. In meinem Text war am Ende kein Platz für einen Exkurs auf Kinskys Buch. Das war vielleicht gar nicht nötig. Denn ihr "Weiter Sehen" zieht längst neue Kreise. Im "Bundesverband für kommunale Filmarbeit" regen sich Stimmen, die fordern, es solle das altgediente Motto "Andere Filme anders zeigen" ersetzen. Esther Kinsky war erstaunt, als ich ihr davon berichtete. Ihr Blick ließ nicht vermuten, dass sie dagegen rechtliche Schritte unternehmen wird.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt