Das selbstverliebte Kino
Es gibt aktuell nicht viele Texte, die auf hohem theoretischem Niveau grundsätzliche Thesen wagen. Und noch weniger, die das Premium-Autorenkino kritisch angehen. Georg Seeßlen über den spannenden Essay »Objektverlust« des Filmhistorikers und -kurators Lars Henrik Gass
»Objektverlust« ist eines der Bücher, mit denen man viel lieber weiter nach- und nebenandenken mag, als an ihnen herumzunörgeln. Es trifft, wie man so sagt, einen Nerv, und das kann sehr unterschiedliche Reaktionen auslösen. Das hat natürlich auch mit der sehr klaren und durchaus fulminanten Eingangsthese von Lars Henrik Gass zu tun: Es hat sich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten eine Form von Kino entwickelt, die sich nicht mehr um die konkreten Erfahrungen in der äußeren Wirklichkeit bemüht, sondern »auf einen Fundus überlieferter Bilder bezieht, die von ihren historischen und gesellschaftlichen Bedeutungen entleert sind«. Solche Filme werden »zur Erlebnismaterie einer narzisstischen Gesellschaft. Film wurde die Propaganda einer Welt ohne Außen«. Kurzum: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit findet im Kino derzeit nicht mehr statt.
Der Satz, natürlich, an dem sich möglicherweise die Debatte über diese These entfalten kann, ist der von der Propaganda. Der nämlich unterstellt statt einer künstlerischen Reflexion (über die man stets streiten kann) eine politische oder ökonomische, eine, wenn man so will, ideologische Absicht. Und die These unterstellt im Umkehrschluss, dass es eine Außenwelt, in die man mit Neugier und Erkenntniswunsch aufbrechen könnte, eine materielle (objekthafte) gesellschaftliche Wirklichkeit, immer noch gibt. Die (Film-)Kunst würde sich also einer Verweigerung schuldig machen. Sie würde jenen Gestus der Bewegung auf die Wirklichkeit zu opfern bereit sein, die der Autor von der Frühzeit des Films bis in die Nachwehen des Neorealismus am Werk sieht. Vielleicht ist es komplizierter.
Im Zeugenstand – um nicht zu sagen: auf der Angeklagebank – befinden sich hier etwa die Filme von Wes Anderson, Greta Gerwig, Mia Hansen-Løve, Yorgos Lanthimos, Ruben Östlund, Joachim Trier oder Athina Rachel Tsangari, auch der unvermeidliche Quentin Tarantino ist geladen. Was schon eine ziemliche Bandbreite für den »Film in der narzisstischen Gesellschaft« (so der Untertitel des Buches) abgibt.
Das alles beginnt mit einer direkten Ideologiekritik etwa anhand von US-amerikanischen Actionfilmen, in denen sich die Drift vom demokratischen Universalismus und der ironischen Brechung (»Die Hard« als Beispiel) zum narzisstischen Individualismus abbildet, »der vom protofaschistischen Reinheitswahn getrieben ist« (die »Taken«-Serie mit Liam Neeson). Und es führt direkt zu der karikaturhaften Kritik der Reichen und Superreichen, die sich in Krisensituationen wie Mitglieder einer archaischen Horde verhalten, bei Östlund, Trier oder Tsangari. Die Lust am Bourgeoisie-Bashing, die Filme von Luis Buñuel oder Claude Chabrol auszeichnete, ist einer panischen Reaktion auf den Terror der Intimität gewichen, und auf die endlose Suggestion einer unbekannten Welt, in die sich die Maschine Kino hineinzubewegen wagte, ist das grenzenlos ausgedehnte Ich gefolgt: Die Welt verliert ihre Geheimnisse, dafür wird sich das Ich immer wichtiger – und immer seltsamer. »Kino, das der Gesellschaft eine Zeit lang die Möglichkeit geboten hatte, durch den Schock technisch vermittelter Erfahrung sich und das Andere zu beobachten, verwandelt sich in den Filmen zum bloßen Spiegel des Selbst«.
Die Klage über die Filme, die einer narzisstischen Gesellschaft entsprechen, ist zwar vollkommen berechtigt, beantwortet aber nicht eine Grundfrage des Kinos (und der Kunst), nämlich was daran Affirmation und was Reflexion ist. Das Kino ist immer selbst Teil dessen, was es zeigen und was es »erkennen« kann. Und wenn Gass über einen Film von Wes Anderson schreibt: »Rushmore bezeichnet den Übergang des Narzissmus von einer individuellen Persönlichkeitsstörung, die allerhand komische Verhaltensauffälligkeiten hervorbringt, zur gesellschaftlich normalisierten Interaktion aller«, ist man versucht zu fragen, ob das nicht das Höchste ist, was man von einem Film überhaupt an kritischem Potenzial verlangen kann. Es kommt nur darauf an, was das Wort »bezeichnen« – äh – bezeichnet.
Dass eine Krise der Gesellschaft auch in den Filmen steckt, die sie hervorbringt, führt stets zur Doppelfunktion des Mediums zurück. Das Kino ist Teil der Krise (und Teil der Überlebensstrategien darin), und es ist ein Blick von außen darauf, durch die Maschine (mehr sogar als die »Autoren«). Mit dieser Ambivalenz ist zu leben, auch von der Kritik.
Aber solche Krisen haben schon ihre eigene Kunstgeschichte. Der Mehrzahl der Filme, um die es in dem Essay geht, würde ich den Begriff »manieristisch« zuordnen, was – denken wir uns für einen Augenblick in die Malerei des 16. Jahrhunderts und dann in wiederkehrende Wellen in der ästhetischen Produktion zurück – einerseits die Suche nach einem unverwechselbaren, schließlich hyper-persönlichen Stil bedeutete, andererseits aber auch einen Reflex auf das Maß und die Codes von Natur, Bild und »Schöpfung«. Körper zum Beispiel werden in dramatische, »unnatürliche« Bewegungen versetzt, die Objekte verlieren ihren Halt in der mehr oder weniger göttlichen – und eben auch der politischen – Weltordnung, und Zeichen sind nicht mehr Forderung, sondern Möglichkeit. Ein manieristisches Gemälde ist nicht mehr in dem Sinne lesbar, wie es die christliche Ikonographie verlangt, als semantische Versöhnung von äußerer Welt und Schöpfungsplan oder biblischem Text. Der Ausweg aus dem neu aufgebrochenen Widerspruch zwischen materieller/organischer Wirklichkeit und religiösem Text ist in einem Wort: Eleganz. (Anderswo nennt man es Subversion.) Solche Vorgänge, in denen ein Pakt zwischen Bild, Idee und Wirklichkeit aufgelöst wird, wiederholen sich in den sozialen Krisen; und oft genug wird dabei beim Sehen aus dem Staunen das Entsetzen.
In unseren imaginären und realen Filmmuseen, gewiss, gibt es ganz andere Filme. Gass erinnert an sie, an Roberto Rossellini oder Luchino Visconti, die in sich die Bewegung auf die Erfahrung der Wirklichkeit vollziehen. »Die Handlung ist keine Erzählung, die von Wirklichkeit handelt, sondern ein Verhältnis zur sozialen Welt, das den genuin materialistischen Kern von Viscontis Film bildet«. Eben dies scheint mir der entscheidende Schritt: Der Film enthält nicht die Wirklichkeit, sondern er zeigt eine Reaktion darauf. Annehmen oder Abwehren, Eindringen oder Innehalten, Fenster oder Spiegel. Und in einem dritten Schritt provoziert er eine Reaktion (und sei's schiere Ratlosigkeit oder halluzinatorisches Abheben) auf jemanden, der auf die Wirklichkeit reagiert, vor allem wenn er oder sie es anders als erwartet (oder vielleicht sogar gar nicht) tut. Das ist, was uns als Zuschauer*innen erwartet, wenn es um ein Sehen und nicht bloß ein Wiedererkennen geht.
Lars Henrik Gass errichtet in seinem Essay einen Diskursraum, in dem man sich, sieht man einmal von ein paar allzu einfachen Wegmarken der Kritischen Theorie ab, ziemlich frei bewegen kann. Das Schöne daran ist, dass man ja jederzeit zum eigenen Sehen zurückkehren kann. Was mit dieser »neuartigen sozialen Kybernetik« gemeint ist, »einer postkinematographischen Wirklichkeit, die einem radikal veränderten Verhältnis zwischen Subjekt und Gesellschaft entspricht«, und auch mit dem im Titel genannten Objektverlust, erschließt sich zum Beispiel über einen Vergleich der beiden Verfilmungen von Patricia Highsmiths Roman »Der talentierte Mr. Ripley« – einmal durch René Clément (1960) und einmal durch Anthony Minghella (1999). Tatsächlich zeigt dieser Vergleich sehr genau, was das heißt, wenn das Kino die Suche nach sozialer Beziehung zugunsten schierer Ich-Inszenierungen aufgibt. Allerdings ergibt sich da auch eine gewisse Schieflage: Während Cléments Film einen enormen Einfluss hatte, nicht nur weil er den Typus Alain Delon neu definierte, war Minghellas Film schon wieder vergessen, kaum hatten ihn ein paar Leute vor allem wegen seiner Stars gesehen. »Kino bildet keine gesellschaftlichen Verhältnisse mehr ab, sondern repräsentiert sie als Warenschau.« Vielleicht hängen wir da schon hinter den Entwicklungen drein. Nicht einmal die Ware ist im »neuen« Kapitalismus noch das Objekt, das es einmal war. Weshalb wir durchaus Filme brauchen, die den Objektverlust reflektieren. Sei's aus Klugheit, sei's aus Naivität.
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