Filmfestival Toronto

Luft nach oben
»Encounter« (2021). © Amazon Studios

»Encounter« (2021). © Amazon Studios

In Toronto lief es in diesem Jahr noch nicht so richtig rund. Hybride Organisation, wenig T­opproduktionen. Aber auch: große Darsteller und spannende psychologische Einblicke

Fast hätte man, von Cannes über Locarno bis Venedig, diesen Sommer den Eindruck gewinnen können, die internationale Festivalwelt laufe – von Maskenpflicht und unterschiedlich mühsamen Ticketbuchungssystemen abgesehen – nach einem Jahr Pause wieder so rund wie eh und je. Doch das 46. Toronto International Film Festival (TIFF) zeigte im September, dass es ganz so eben doch noch nicht ist.

Nach einer zumindest für Fachbesucher rein virtuellen Ausgabe im vergangenen Jahr hatte man sich nun für eine Mischform entschieden. Vor Ort fanden wenigstens an einer Handvoll Tage Pressevorführungen und Premieren statt, doch Journalisten aus Übersee sagte man auf Nachfrage, man würde niemanden »aktiv ermutigen«, nach Kanada zu reisen (auch weil Einreisebeschränkungen erst wenige Tage vor Festivalstart gelockert wurden). Auch was die Zahl der Filme angeht, lag man noch deutlich unter Vor-Corona-Zeiten.

In der Praxis hatte das zur Folge, dass viele der größten Titel (gemessen am kommerziellen Potenzial beziehungsweise den Oscarchancen) entweder, wie »Dune« und »Spencer«, aus Venedig bekannt waren oder aufgrund von Geoblocking dem online sichtenden Publikum vorenthalten wurden. In letztere Kategorie fielen neben dem Eröffnungsfilm »Dear Evan Hansen« etwa Kenneth Branaghs »Belfast«, »The Eyes of Tammy Faye« mit Jessica Chastain oder »The Electrical Life of Louis Wain« mit Benedict Cumberbatch.

Was also gab es zu sehen? Netflix präsentierte gleich zwei Filme, die kurz nach der TIFF-Premiere auch regulär starten. ­Antoine Fuquas »The Guilty« (ab 1.10.) mit Jake Gyllenhaal als Polizist in der Notrufzentrale, der eine entführte Frau am anderen Ende an der Leitung hat, ist ein Remake des gleichnamigen dänischen Films von 2018. Dessen Subtilität ist ein wenig verloren gegangen, Fuqua und Gyllenhaal drücken in zahlreichen Großaufnahmen deutlich auf die Tube. Spannend ist der ganz auf sein klaustrophobisches Setting fokussierte Thriller aber noch immer.

Als Enttäuschung entpuppte sich derweil »Der Vogel« (24.9.) mit Melissa McCarthy als trauernder Mutter, deren einjährige Tocher den plötzlichen Kindstod starb. Ihr Mann (Chris O'Dowd) sitzt nach einem Selbstmordversuch in einer psychiatrischen Einrichtung, während sie in ihrem Garten immer wieder von einem Star angegriffen und schließlich von einem zum Tierarzt gewordenen Ex-Psychologen (Kevin Kline) mit Lebensweisheiten versorgt wird. Die Vogelmetapher gerät Regisseur Theodore Melfi dabei leider ähnlich plump wie der Rest des manipulativen, kitschigen und unauthentischen Films.

Andernorts überzeugten vor allem die Hauptdarsteller. »Encounter« etwa, über einen Vater, der glaubt, seine beiden Söhne vor einer Invasion außerirdischer Insekten schützen zu müssen, kommt in seiner Mischung aus psychologischem Drama und Science-Fiction-Thriller nie an den thematisch ähnlichen »Take Shelter« heran. Doch Riz Ahmed spielt als traumatisierter Kriegsveteran zwischen zwei Realitäten einmal mehr groß auf. Genauso wie Ben Foster im auf einer wahren Geschichte basierenden »The Survivor« von Barry Levinson, in dem auch die derzeit omipräsente Vicky Krieps zu sehen ist. Als jüdischer Boxer, der ­Auschwitz nur überlebt hat, weil er für einen Nazioffizier gegen Mitinsassen kämpfte, ist Foster ohne Frage ein Oscaranwärter.

Traumata und psychische Krankheiten waren als Themen überhaupt sehr präsent im Festivalprogramm. Mélanie Laurent etwa erzählt in ihrer neuen Regiearbeit »Le Bal des Folles« (ab 17.9. bei Prime Video) von einer jungen Frau, die im 19. Jahrhundert ins Irrenhaus gesteckt wird, weil sie Geister sieht. Ein übersinnlich-feministischer Kostümfilm, der eher anrührend als gruselig, aber definitiv sehenswert ist. Und als kleines TIFF-Highlight erwies sich die Romanverfilmung »All My Puny Sorrows« von Lokalmatador Michael McGowan: zurückhaltend, bewegend und mit viel bitterem Witz erzählt er von zwei Schwestern (Alison Pill, Sarah Gadon), die aus den Zwängen einer Freikirche ausbrechen konnten, aber unterschiedlich stark am Leben hängen.

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