Goldener Löwe für eine nachdenkliche Taube

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Auf dem 71. Filmfestival von Venedig gewinnt der schwedische Regisseur Roy Andersson mit seinem absurdistischen Bilderreigen A Pigeon Sat on A Branch Reflecting on Existence (Eine Taube saß auf einem Ast und dachte über das Dasein nach) den Goldenen Löwen und setzt den gelungenen Schlusspunkt eines Festivals, dessen verbindendes Thema in diesem Jahr das Nachdenken über die Menschlichkeit war     

 

Die nachdenkliche Taube war schon von Beginn an des 71. Filmfestival von Venedig gewissermaßen in aller Munde. So umständlich der Filmtitel A Pigeon Sat on A Branch Reflecting on Existence (Eine Taube saß auf einem Ast und dachte über das Dasein nach) auch anmutet, so sehr regte er zur Vorfreude an. Denn in einem Programm, das einmal mehr überladen mit schweren Themen und Dramen war, von Krieg über Wirtschaftskrise bis zur Kindbettdepression, versprach der neue Film des 71-jährigen schwedischen Regiemeisters Roy Andersson einen absurdistischen Bilderreigen, in dem auch mal gelacht werden durfte. Etwa über zwei Vertreter der Unterhaltungsindustrie, die erfolglos versuchen „Spaßprodukte“ wie Lachsäcke und Vampirzähne an den Mann zu bringen. Oder über die Kassiererin eines Flughafenbuffets, die das Bier eines soeben vor ihren Augen am Herzinfarkt Verstorbenen feilbietet – der Mann habe schon bezahlt und sie könne ja nicht für ein Bier zwei Mal abkassieren. Die einmalige Verbindung von Humor, Melancholie und hochartifizieller Inszenierung überzeugte denn auch die Jury, der in diesem Jahr der französische Filmkomponist Alexandre Desplat vorstand. Sie zeichnete die Taube mit dem Preis für den besten Film, den Goldenen Löwen aus.

Anderssons Film ragte nicht nur wegen seines rekordverdächtig langen Titels aus dem Festivalprogramm heraus. Unter den 20 Titeln, die in diesem Jahr um den Löwen konkurrierten, war die Taube vor allem formal der eigenartigste und eigenwilligste, weil Anderssons Sketch-Abfolge jenseits von realistischen Vorgaben funktioniert. Doch auch wenn die Gesichter seiner Figuren alle künstlich weiß geschminkt sind, behandelte Anderssons Film dieselbe Frage, die sich in diesem Jahr als Roter Faden durch das Festival zog: Was bedeutet es, Mensch zu sein?

Seine Art der Antwort lieferte der Russe Andrej Konchalovsky mit seinem Film The Postman’s White Nights, für den er den Silbernen Löwen für die beste Regie erhielt. Der 77-Jährige filmt darin die Bewohner eines abgelegenen nordrussischen Dorfs. Es sind dokumentarische Bilder, in denen der Großteil der Menschen sich selbst spielt, wobei die seine sanft steuernde Regie daraus eine berührende Erzählung über Alter, Tod und Vergeblichkeit gewinnt. Konchalovskys Blick auf seine oft auch groben, versoffenen Gestalten ist von einer Zärtlichkeit und Nachsicht geprägt, die den Film zum Publikumshit des Festivals machte.

Die Popularität eines Zuschauerhits wird der neue Film amerikanischen Regisseurs Joshua Oppenheimer, The Look of Silence, wohl nie erreichen. Und trotzdem gehört der Dokumentarfilm zu den am Nachhaltigsten beeindruckenden und anrührenden Filmen des diesjährigen Festivals, seine Auszeichnung mit dem Großen Preis der Jury fand den größten Beifall des Abends. Wie schon in seinem Vorgängerfilm, dem Oscar-nominierten Act of Killing, widmete sich Oppenheimer dem Thema des indonesischen Genozids. Wo der erste Film die Täter in den Mittelpunkt stellte, konfrontiert The Look of Silence nun Täter und Opfer. Ohne große Enthüllungen und ohne große Worte öffnet der Film allein mit seiner geduldigen Beobachtung von Gesichtern und Körpern den Blick für die komplexen Verstrickungen von Schuld und Sühne. Jurymitglied Tim Roth verglich die Wirkung des Films mit dem Erlebnis der Geburt von Kindern und beschrieb damit exzellent die elementare, emotionale Wucht dieses Films.

Die deutsche Filmindustrie, enttäuscht über das schlechte Abschneiden von Fatih Akins Film The Cut, konnte immerhin als Koproduzent des schwedischen Löwengewinners mitfeiern und sich über eine weitere Beteiligung freuen: Der Spezialpreis der Jury ging an den türkisch-deutschen Film Sivas von Kaan Mujdeci. Sivas erzählt von einem kleinen Jungen in Anatolien, der ins Milieu illegaler Hundekämpfe gerät. Der Regisseur, der in Venedig mit Sivas sein Spielfilmdebüt vorstellte, lebt in Berlin-Kreuzberg, wo er mit seinem Bruder, dem Produzent des Films, einen Concept-Store betreibt. Die Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein, kennt allerdings keine nationalen Grenzen oder Identitäten.  

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