Festival des jungen Films Mannheim/Heidelberg

Das ist Kino!
»In the Crosswind« (2014)

»In the Crosswind« (2014)

Es gab viel zu entdecken auf dem Festival des jungen Films in Mannheim-Heidelberg: interessante thematische Leitlinien und wunderbare, formal konzentrierte Arbeiten von Regisseuren, die man sich merken sollte

Auf dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg erhalten Newcomer eine Chance. Die Karrieren von Jim Jarmusch und Atom Egoyan begannen hier. Ob in diesem Jahr wieder einer dieser Solitäre am Start ist, die sich ins Gedächtnis brennen? Diese Frage möchte man eher zurückhaltend beantworten, denn zumindest unter den 13 Wettbewerbsfilmen war eine auffällige thematische Übereinstimmung zu beobachten. Auf die eine oder andere Weise geht es immer wieder um Väter und Vaterfiguren. So erzählen etwa der nach Uruguay emigrierte Ukrainer Dimitry Rudakov und der Ire Terry McMahon von psychisch gestörten jungen Männern. In 23 Segundos und in Patrick’s Day haben Söhne dasselbe Problem: Ihnen fehlt der Vater. Deshalb sind sie abhängig von den allzu präsenten Müttern.

Das Fehlen einer Vaterfigur thematisieren auch die Holländerin Jorien van Nes und die Belgierin Savina Dellicour: A Long Story, ein melancholisches Roadmovie, erzählt von einem orientierungslosen Gelegenheitsarbeiter, der einen rumänischen Halbwaisen in dessen Heimatdorf zurückbringt – letztendlich aber die vakante Vaterrolle nicht einnehmen kann. Flotter zur Sache geht es in Tous les chats sont gris, einer belgischen Komödie, die das Festival eröffnete und nicht zufällig die meisten Lacher im Publikum hervorrief. Auch hier wird das Thema variiert: Eine pubertierende 15-Jährige sucht mit Hilfe eines ebenso liebenswürdigen wie tollpatschigen Privatdetektivs nach ihrem leiblichen Vater.

Wohin sind all die Väter verschwunden? Antworten darauf geben zwei weitere Filme. Helium, ein Gangsterdrama, schildert das Schicksal eines Paten, der mit wachsender Nervosität darauf wartet, dass er von einem Emporkömmling erschossen wird. Da der Niederländer Eché Janga auf Plot und Erklärungen über die Geschäfte seines Protagonisten verzichtet, ist sein Film eine (nicht ganz überzeugende) Meditation über das Genre. Ebenso meditativ, wenn auch zwangsläufig, ist A Despedida: Der Brasilianer Marcelo Galvão beobachtet einen pensionierten Admiral. Mit großer Mühe kleidet der 92-jährige Greis sich morgens an, macht sich ausgehfertig, um mit dem Rollator eine – erheblich jüngere – Frau zu besuchen. Ist sie eine Prostituierte oder eine Mutterfantasie? Das bleibt in dieser Entdeckung der Langsamkeit irgendwie offen.

Betont langsam ist auch Risttuules, ein zutiefst beeindruckender Film, mit dem Martti Helde aus Estland an die 40.000 Menschen erinnert, die Stalin in den 40er Jahren aus den baltischen Staaten in Vernichtungslager deportieren ließ. Der 1987 geborene Regisseur stellt dazu authentische Schwarz-Weiß-Fotos nach, fährt mit der Kamera in diese Tableaux vivants hinein, um das versteinerte Leid seiner stummen Protagonisten wie Skulpturen zu erforschen. Auf den zweiten Blick wird erkennbar, dass in diesen Stillleben reale Darsteller »agieren«. Geschichte wird auf verblüffende Weise lebendig: ein formaler Kraftakt, der aber nie prätentiös wirkt.

Das schwedische Psychodrama Hotell setzte ein weiteres Ausrufezeichen. Lisa Langseth erzählt von der Innenarchitektin Erika (überzeugend: Alicia Vikander), die nach der Geburt ihres hirngeschädigten Frühchens psychologische Hilfe in einer Gruppentherapie sucht. Von der Psychologin enttäuscht, bilden fünf Teilnehmer ungeplant eine Guerilla-Therapiegruppe, die in wechselnden Hotels Ferien vom Ich macht: ohne gutmenschelnde Selbsterfahrungsesoterik.

Im Gedächtnis bleibt auch der anrührend poetische Film des Iraners Payman Haghani, der die Geschichte einer Frau aus der Sicht der Schuhe erzählt, mit denen sie durchs Leben ging – »316« Paare, wie der Titel sagt. Durch die verschobene Perspektive erhält das Beiläufige, Unbeachtete eine magische Bedeutung. Neben diesem gelungenen Experiment wirkt Elchin Musaoglus Nabat geradezu klassisch. Das stumme Porträt einer Frau in einem verlassenen aserbaidschanischen Dorf fasziniert durch seine kunstvollen, langen Einstellungen. Reduziert aufs Wesentliche, gelingen hier Bilder wie Gemälde. Man staunt über jeden einzelnen Stein. Das ist Kino.

Alle Preise im Überblick:

Preise der unabhängigen internationalen Jury

Newcomer of the Year – Hauptpreis von Mannheim-Heidelberg
23 Seconds – 23 Segundos von Dimitry Rudakov

Mannheim-Heidelberg Preis
Nabat von Elchin Musaoglu

Specialpreis der Jury
Farewell – A Despedida (von Marcelo Galvao) an den Schauspieler Nelson Xavier


Weitere Preise des 63. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg

Publikumspreis von Mannheim Heidelberg
Ghadi von Amin Dora

FIPRESCI Preis der Jury des internationalen Verbands der FilmkritikerInnen
Nabat von Elchin Musaoglu

Preis der Ökumenischen Jury
Nabat von Elchin Musaoglu

Auszeichnungen der Empfehlungsjury der Kinobetreiber
Patrick's Day von Terry McMahon

In the Crosswind – Risttuules von Martti Helde

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