Kritik zu Herz aus Eis
Die französische Autorenfilmerin Lucile Hadžihalilović hat für Andersens Märchen von der »Schneekönigin« eine spannende Form gefunden: modern und selbstreflexiv
Hans Christian Andersens »Die Schneekönigin« wurde schon vielfach adaptiert – vom Disney-Animationsfilm bis zum sowjetischen Märchenklassiker. Eine besonders freie und zeitgenössische Interpretation liefert nun Lucile Hadžihalilović mit ihrem neuen Film »Herz aus Eis«. Während bei Andersen das Mädchen Gerda seinen Freund Kay aus dem Reich der Schneekönigin befreien muss, folgt Hadžihalilović dem 15-jährigen Waisenkind Jeanne (Clara Pacini), das aus dem Kinderheim flieht, um im Paris der 1970er Jahre ein besseres Leben zu finden. Konfrontiert mit der – emotionalen – Kälte der Großstadt, sucht sie Zuflucht in einer Lagerhalle. Und entdeckt am nächsten Morgen, dass sie in einem Filmstudio gelandet ist, in dem gerade ihr Lieblingsmärchen »Die Schneekönigin« verfilmt wird. Jeanne wird Komparsin und Teil des Teams; bald verschwimmen für sie Film und Wirklichkeit. Denn die Schauspielerin Cristina de Berg (Marion Cotillard), die die Schneekönigin verkörpert, ist im wahren Leben ebenso makellos schön, kalt und herrisch wie ihre Figur. Jeanne gerät in ihren Bann – während Cristina immer mehr von dem Waisenmädchen fordert.
Obwohl mit einem ähnlichen Interesse am Abgründigen ausgestattet, suhlen sich die Filme von Hadžihalilović weniger im Extremen als die ihres Ehemannes Gaspar Noé, der in »Herz aus Eis« den Regisseur des Films im Film spielt. Hadžihalilović interessiert sich nicht so sehr für das Explizite wie für den Abgrund, der im Verborgenen, Unbekannten und Verdrängten lauert. Die studierte Kunsthistorikerin lässt sich dafür immer wieder von den Werken der metaphysischen Malerei inspirieren – von Giorgio de Chirico, Yves Tanguy oder Paul Delvaux. Ihre Bildwelten gestalten sich auch ganz ähnlich. Sie sind zugleich leer und rätselhaft, schön und beunruhigend. Wie die Künstler, die sie inspirieren, geht es Hadžihalilović dabei weniger um (kunst-)theoretische Ansätze zur Schaffung oder Interpretation eines Werkes als um pure Empfindung. Ihre Filme – von »Innocence« über »Evolution« bis »Earwig« – gehen über das Seiende, über das, was auf der Leinwand zu sehen ist, hinaus. Sie zielen direkt auf die Gefühle und das Unterbewusstsein ihrer Zuschauer ab – folgen ihrer ganz eigenen märchenhaften Erzähllogik, sind bevölkert von adoleszenten Heldinnen und mysteriösen Erwachsenen und präsentieren uns labyrinthische Orte voller Rätsel und Geheimnisse, in denen Natur und Weiblichkeit auf seltsame Art und Weise miteinander verschränkt sind.
»Herz aus Eis« reiht sich nahtlos in Hadžihalilovićs übriges Werk ein. Der Film ist ein düsteres, märchenartiges Melodrama über Besessenheit, Opferbereitschaft und Selbstverlust, in dem sich ein heranwachsendes Mädchen die Frage stellen muss, was es für ein neues Leben zu opfern bereit ist. Anders als in Hadžihalilovićs bisherigen Filmen lässt sich aber zumindest anfangs noch eine klare Trennlinie zwischen Traum und Wirklichkeit ausmachen. Es ist ein eher schleichender Prozess, in dem sich die phantasmagorische Welt des Films – das Reich der Schneekönigin – mit der Realität verbindet. Vor unseren Augen entsteht langsam »eine idyllische Welt mit Anklängen an eine Katastrophe«, wie der Kunsthistoriker und Kurator James Thrall Soby Chiricos Bilder einst beschrieb. Wobei sich Spuren des Märchens bereits vor dem Ineinanderlappen der beiden Welten finden lassen. So ist die Jacke, die Jeanne trägt, bezeichnenderweise rot, als sie zum ersten Mal in Kontakt mit den geifernden Männern außerhalb des Kinderheims kommt – böse Wölfe gibt es überall.
»Herz aus Eis« ist daneben aber auch Hadžihalilovićs bislang deutlichster Beitrag zu einem metakinematografischen Kino – ihr »8½«. Und ähnlich wie Fassbinders »Lili Marleen« handelt der Film von der Verführungskraft des Kinos – davon, wie dieses Medium die Sehnsucht nach Schönheit, Macht und Unsterblichkeit entfacht. Im Laufe des Films wird Jeanne zu Cristinas Hauptbezugsperson bei den Dreharbeiten. Sie gibt dem Mädchen die Rolle der Gerda, bringt sie in einem Luxushotel unter und lädt sie schließlich zu sich nach Hause ein – ein Schloss, das dem der Schneekönigin nicht unähnlich ist. Die Jugendliche muss erkennen, dass die Welt des Films selbst das Reich der Schneekönigin ist: voll von Menschen, die ihrer Herrscherin absurd hörig sind und Eisklumpen haben, wo eigentlich Herzen sein sollten. Komplett allein und entfremdet von ihrer liebevollen Heimfamilie lernt Jeanne schon bald die Gewalt Cristinas kennen. Die Diva wird gegenüber dem jungen Mädchen übergriffig. Der Film formuliert hier eine sehr deutliche Kritik an den Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen der Branche.
Er ist aber mehr als das. Er ist ebenso eine Meditation über das Kino selbst, die immer wieder den Raum zur Medienreflexion öffnet. Das Licht, das sich im Kristall bricht, den Jeanne von Cristinas Kostüm abgerissen hat, und sich per Überblendung in einen Projektorstrahl verwandelt oder der Dialog der beiden Hauptfiguren über unendliche Schönheit, den Tod und die Unsterblichkeit zeigen eindrücklich, wie der Film über sich und seine eigene Beschaffenheit nachdenkt. Besonders großen Kinozauber entfacht der Film jedoch beim Schnitt. Zusammen mit Editor Nassim Gordji-Tehrani schafft Hadžihalilović es immer wieder, das Publikum zum Staunen zu bringen: Wenn sich ein vermeintlicher Traum Jeannes plötzlich als reale Szene entpuppt oder sie durchs schneebedeckte Set wandert und im Miniaturmodell des Schlosses der Königin deren Körper liegen sieht, bevor der Film fast unmerklich zu den Dreharbeiten schneidet, dann offenbart er sich als Spiegel seiner eigenen Trugbilder. Man kann das als Einladung zum metamedialen Philosophieren auffassen oder sich einfach verzaubern lassen.
Als »Herz aus Eis« Weltpremiere bei der diesjährigen Berlinale feierte, wurde der Film vor allem mit einem anderen aus dem Programm verglichen – mit »Reflection in a Dead Diamond« von Hélène Cattet und Bruno Forzani. Die Gründe dafür sind nachvollziehbar. Beide sind eher ungewöhnlich für das Berliner Filmfestival, beide changieren zwischen Arthouse- und Genrefilm, sind ganz ihrer jeweiligen, ganz eigenen Bildlogik folgende Reflexionen über das Verhältnis von Film und Wirklichkeit. Und vor allem bieten beide ein unglaubliches Netzwerk aus Zitaten und Querverweisen. Im Fall von Hadžihalilović sind es neben den Filmen Fassbinders die Melodramen von Michael Powell und Emeric Pressburger, das italienische Kino der 1970er Jahre oder die Filme von Douglas Sirk und Alfred Hitchcock, die in »Herz aus Eis« lustvoll zur schillernden Collage verarbeitet werden. Wobei die Regisseurin sich von ihren Zitatquellen unter anderem die Praxis entleiht, über Dekor und Kostüm das Innenleben der Figuren auszustellen.
Getragen wird all das von zwei herausragenden Hauptdarstellerinnen. Clara Pacini verleiht Jeanne eine fragile Entschlossenheit. Das Mädchen, das weit davon entfernt ist, ein Unschuldslamm zu sein, dabei aber eigentlich nie etwas Böses will, spielt sie beseelt von einer unglaublichen Stärke, durch die immer wieder eine ungebrochene Melancholie durchschimmert, so komplex wie subtil. Während Marion Cotillard das Unmögliche schafft. Ihre Präsenz lässt den Zuschauer erstarren – und die Leinwand schmelzen. Am Ende verhält es sich mit »Herz aus Eis« wie mit dem Kristall, den Jeanne heimlich an sich nimmt: Das Licht, das sich darin in viele kleine Strahlen auffächert, spiegelt die Vielschichtigkeit dieses Films. Seine Schönheit liegt in der Summe seiner gebrochenen, leuchtenden Facetten.




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