Kritik zu Das Lehrerzimmer

© Alamode Film

2022
Original-Titel: 
Das Lehrerzimmer
Filmstart in Deutschland: 
04.05.2023
L: 
94 Min
FSK: 
12

İlker Çatak erzählt in seinem neuen Film von einer Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft, nicht in ­pädagogischer Form, sondern als Thriller um Macht, Einfluss, Verdacht und Übergriff

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Ein Gymnasium am Rande von Hamburg, keine Brennpunktschule, auch wenn es einige Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Dazu ein Problem, dem schwer beizukommen ist, auch mit der sogenannten Null-Toleranz-Politik: Immer wieder verschwindet Geld aus ­Taschen und Ranzen. Und mittendrin eine junge, engagierte Lehrerin, die alles richtig machen will. Wie das Recht mit der Realität kollidiert, davon hat İlker Çatak schon öfter erzählt, davon, dass es unter Menschen ­eigentlich nie einfache Lösungen gibt.

So betritt die resolute Direktorin mit zwei Lehrern als Verstärkung ein Klassenzimmer. Zuerst werden alle Mädchen aus dem Raum geschickt, dann folgt die Ansage: »Alle, die jetzt noch hier sind, hören genau zu. Wir würden gern einen Blick in eure Portemonnaies werfen«, kündigt sie an. »Das Ganze ist natürlich freiwillig, aber wer nichts zu verbergen hat, der braucht sich auch keine Sorgen machen!«, räumt sie halbherzig ein. Wer unschuldig ist, wird impliziert, brauche ja auf sein Recht nicht zu pochen. Und umgekehrt gilt: Wer sein Recht fordert, macht sich verdächtig. 

Die Sätze haben es in sich, den Kindern steht eine moderate Verstörung in die Gesichter geschrieben, aber das wahre Ereignis in dieser Szene ist Leonie Benesch, die schon als Siebzehnjährige in Michael Ha­nekes »Das weiße Band« (2009) aufgefallen ist. Hier spielt sie die junge Lehrerin Carla ­Nowak, in deren Matheunterricht die Inquisitionsdelegation hereingeplatzt ist. Eine ganze Sinfonie widersprüchlicher Gefühle lässt sich auf ihrem Gesicht ablesen, eine volatile Mischung aus fassungslosem Entsetzen und mühsamer Zurückhaltung, aus Empörung und Beherrschung, aus Wut auf die übergriffigen Kollegen und Empathie für die Kinder, die ihnen ausgeliefert sind. Und sofort merkt man, dass dieser Film ein ganz anderes Kaliber ist als etwa der in einem Lehrerzimmer spielende Thesenfilm »Eingeschlossene Gesellschaft«, in dem Sönke Wortmann sein Lehrpersonal wie Schachfiguren in einer Versuchsanordnung auftreten ließ.

Auch »Das Lehrerzimmer« ist auf einen einzigen, etwas weitläufigeren Schauplatz beschränkt, eine Schule mit ihren Klassenräumen, dem Lehrerzimmer, der Turnhalle, den Gängen dazwischen und dem Schulhof davor. Was Kinder und Lehrer jenseits der Schule tun, spielt keine Rolle für den Gang der Ereignisse, die sich ganz aus der Perspektive der jungen Lehrerin entfalten, immer in ihrem Beisein, immer in ihrem Blick, immer in ihren mal offenen, mal gedrosselten Reaktionen. Als engagierte Lehrerin will Carla Nowak ihre Verantwortung für die Kinder wahrnehmen, ist zugleich aber auch die Neue im Kollegium, die die an der Schule geltenden Codes erst noch entschlüsseln muss. Es ist eine enge Welt, die im fast quadratischen 4:3-Format gedreht ist, Gefühle können nicht entweichen, fordern immer ganz direkte und unausweichliche Reak­tionen. Dann macht auch Carla Nowak einen Fehler, der dazu führt, dass die Dinge eskalieren.

Wie oft in den Filmen von İlker Çatak hilft es auch hier nicht, dass jemand alles richtig machen will. Das war schon in den Romanverfilmungen »Es war einmal India­nerland« und »Räuberhände« so und dazwischen in dem Autorenfilm »Es gilt das gesprochene Wort« über eine Scheinehe zwischen einer deutschen Pilotin und einem kurdischen Geflüchteten. Und wie immer speist sich die Geschichte auch hier aus den interkulturellen Erfahrungen, die Çatak als in Deutschland geborener Sohn türkischer Einwanderer gemacht hat, oder besser noch: aus einem generell wachsamen Blick für seine Umgebung, den Problemen mit der Wahrheitsfindung, dem Zündstoff, der im Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Klassen liegt, in einem weiten Spektrum von latenter Diskriminierung bis zu offenem Rassismus im mehr oder weniger militanten Eintreten für die eigenen ­Interessen. Im Kleinen der Schule untersucht Çatak dieselben Kräfte, die auch im Großen der Gesellschaft wirken.  

Meinung zum Thema

Kommentare

Super Schauspieler- super Film.
Frage: was sollte die letzte Szene mit den Polizisten?

Wirklich unrealistisch, dass Polizisten den Jungen wegtragen.

Oskar ist ein Ass in Mathe. Er löst am Ende die Algorithmus-Aufgabe mit dem magischen Zauberwürfel, welche ihm seine Lehrerin am Anfang stellte. Das hat in gewisser Weise symbolische Bedeutung: Technisch-mathematisch ist alles gelöst, sonst nichts – eher im Gegenteil! Wenn die Schule einen Spiegel der heutigen Gesellschaft darstellt, zeigt der Film, dass es mehr Kompetenzen braucht für ein gutes und funktionierendes Zusammenleben, vielleicht auch neue Regeln, jedenfalls Veränderungen. Wertvoll macht den Film, dass er veranschaulicht, wie es nicht geht – selbst bei bestem Willen. Das wird auch durch die ziemlich surreal anmutende Schlussszene unterstrichen: Oskar wird – dramatisch begleitet mit Musik – von Polizisten auf seinem Stuhl wie ein auf dem Thron sitzender König hinausgetragen. Noch kurz zuvor saß er allein mit seiner Lehrerin im (zugeschlossenen) Klassenzimmer und man hatte den Eindruck, irgendwie seien sich die beiden nach all dem vorangegangenen Stress wieder etwas nähergekommen. Inzwischen aber müssen die anderen LehrerInnen die Polizei geholt haben, deren Einsatzkräfte dann eben für den "Abtransport" von Oskar sorgen. Auf rein indidvdueller menschlicher Basis zwischen der wunderbar spielenden Leonie Benesch als Carla Nowak und ihrem Schüler war (oder ist) der immer komplexer gewordene Konflikt nicht (mehr) aufzulösen. Als Zuschauer muss ich das offene Ende sowohl ertragen können als auch versuchen, es weiterzudenken. Oder?

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt