Zwei Jubiläen

Alle fünf, sechs Jahre fällt der Welttag des audiovisuellen Erbes auf einen denkbar ungünstigen Wochentag. Das ist auch heute so: Montags haben (Film-) Museen in der Regel geschlossen. Der UNESCO, die ihn vor 20 Jahren ins Leben rief, kann man daraus natürlich keinen Vorwurf machen – das würde bei jedem anderen Datum ebenfalls passieren.

Wie viele Initiativen der UNESCO findet er nicht ganz die öffentliche Beachtung, die er verdient. Dabei stellt der 27. Oktober eine wunderbare Gelegenheit dar, die Filmgeschichte neu zu sortieren und den Kanon zu erweitern. Chris Wahl hat darauf bereits vor zehn Jahren, als im Kalender wiederum ein Montag stand, in einem denkwürdig empörten Essay (https://www.memento-movie.de/2014/10/wider-die-metropolisierung-des-filmerbes/) hingewiesen. Während die Museen einen Ruhetag einlegen, begehen hier zu Lande einige der Kommunalen Kinos den Tag, darunter das Metropolis in Hamburg, welches mit einem Programm an den famosen Tonkünstler Oskar Sala ("Die Vögel") erinnert. Hier (https://www.ccaaa.org/WDAVH2025) finden Sie eine gewiss unvollständige Liste der weltweiten Aktivitäten.

Bisher fiel der 27. Oktober in den Zeitraum, in dem die Deutsche Kinemathek in Berlin ihr Filmerbe-Festival feiert. Das war heuer nicht der Fall; "Film Restored", das inzwischen zum zehnten Mal veranstaltet wird, endete gestern: gleichsam als fünftägiger Countdown auf den Welttag hin. Historikerinnen und Historiker stellten die Filme vor und berichteten von deren Restaurierung. Einige Regisseurinnen präsentierten ihre Filme, darunter Monika Treut und Gini Reticker, andere nahmen per Videocall oder digitaler Grußbotschaft teil. Vor der Leinwand saßen nicht nur Vertreter von Kinematheken, Filmmuseen und Kommunalen Kinos. Im diesjährigen Partnerkino, dem fabelhaften Sinema Transtopia im Wedding, fand sich darüber hinaus ein sehr junges, diverses Publikum ein. Hier wirkt ein Genie des Ortes - was sich mit gleichem Recht, wenngleich auf etwas andere Weise, über die große Halle des E-Werk in der Mauerstraße, dem aktuellen Domizil der Kinemathek sagen lässt. Dort fand auch der Abschluss statt, die würdig lebhafte Verleihung des Kinopreises, den der Kinematheksverbund an außerordentlich engagierte Kommunale Kinos vergibt.

"Film Restored" steht alljährlich unter einem bestimmten Motto. Diesmal lautete es "Action" und schillerte. Es offenbarte viele Facetten, gemeint war  damit eben nicht nur spektakuläres Handlungskino mit waghalsigen Stunts, sondern auch Aktivismus, die Energie und Verve, mit denen ein zivilbürgerliches Mandat übernommen werden kann. Anke Hahn, die das Festival koordiniert, erklärte mir, in welchen Schritten sich die Filmauswahl vollzieht. Sobald das Thema feststeht, werden Filmarchive weltweit um Einreichungen gebeten. Auch während der Berlinale wird das Thema gestreut. Das ist ein offener Prozess, einige der Vorschläge haben sie überrascht, namentlich die eingereichten Animationsfilme. Action und Aktivismus stehen ohnehin nur auf den ersten Blick in Opposition, es stellte sich zuweilen heraus, dass die Grenzen fließend sein können.

In "A Touch of Zen" etwa, dem erhabenen Schwertkämpferepos von King Hu (restauriert vom Taiwan Film Institute), dauert es immerhin eine geschlagene Stunde bis zur ersten Actionszene; sie will atmosphärisch und moralisch eingebettet sein. Der Regisseur beginnt seine Filme wie ein erfahrener Schwertkämpfer, der die eigene Virtuosität zunächst im Wartestand hält. Seine Haltung gegenüber dem Genre ist nicht zuletzt aus der Liebe zur chinesischen Oper erwachsen, seine Kampfszenen inszeniert er wie Tänze. Und um Widerstand geht es bei ihm irgendwie immer. Ein schönes Beispiel für Facettenreichtum und Grenzgang ist "Dögkeselyű" (Aasgeier, 1983) von Ferenc Andras, den das Nationale Filminstitut in Budapest restauriert hat. Es ist ein packender Thriller (der erste ungarische Film, in dem eine Steadycam zum Einsatz kam), dessen Auslöser eine Art umgekehrter Enkeltrick ist: Ein Taxifahrer, der als Ingenieur nicht genug verdient und in Scheidung lebt, wird von zwei älteren Damen ausgeraubt und sinnt nun auf Rache. Er hat es mit zwei ausgefuchsten, bei der Polizei einschlägig bekannten Taschendiebinnen zu tun, denen er an Raffinement in nichts nachsteht. Schon wie er ihnen auf die Spur kommt (ein entlaufener Hund spielt hier eine wichtige Rolle), beweist enorme Kombinationsgabe und kriminelle Energie. Der pfiffige Erpresser spielt mit der Polizei Katz und Maus, versorgt noch rasch Frau und Kind, bevor er einer tragischen Bestimmung folgt. Nach diesem furiosen Genrestück bekam Andras lukrative Angebote aus Hollywood. Es lief im Wettbewerb der Berlinale und wurde in 70 Länder verkauft, nur im damaligen Ostblock stieß es auf Ablehnung. Mit robustem Pessimismus befragte "Aasgeier" die ökonomisch-soziale Gegenwart und kreiste um Figuren, die nach realsozialistischen Maßstäben höchst unordentliche Leben führen.

Im gleichen Jahr entstand "Eine Saison in Hakkari", Erdan Kirals leiser Klassiker über eine regimekritischen Lehrer im Exil, den die Sinemathek Istanbul restauriert hat. Hier ist der Aktivismus beinahe verinnerlicht, aber in wechselseitige Lernprozesse eingebunden. Wie man in engen, hermetischen Handlungsräumen aufbegehren kann, führt Benoit Lamy in "Home Sweet Home" (Trautes Heim, 1973) auf vergnügliche Weise vor. Seine Tragikomödie, von der Cinemathek in Brüssel restauriert, spielt in einem Altenheim, dessen temperamentvolle Bewohnerinnen und Bewohner unter dem drakonischen Regime der Heimleiterin leiden. Ihrer Unternehmungslust, die befeuert wird von einer fidelen Filmmusik, wollen sie keine Grenzen setzen. Ein kleiner Trupp von Unruhestiftern flieht ans palmengesäumte Mittelmeer, übt sich kregel im Bauchtanz und kehrt reuelos sonnengebräunt heim. Als sie bestraft werden sollen, bricht im Heim ein Aufstand aus, der erstaunlich militante Formen annimmt. Eine Zeitreise in die Utopien der 70er, die in demokratischer Selbstverwaltung und einer freundlichen Kaskade von Happy Ends mündet.

Von Selbstermächtigung erzählt ebenfalls "The Heart of The Matter", den 1994 eine Frauengruppe realisierte, zu der neben Co-Regisseurin Gini Reticker auch die Kamerafrau Ellen Kuras gehörte. IndieCollect in New York stellte den Dokumentarfilm über AIDS-Aktivistinnen vor. Die Waffe der Protagonistinnen ist das Wort, das offene Sprechen über ihre Situation. Die des Films ist die Montage, die den stolzen Selbstzeugnissen die frauenverachtenden Anwürfe der damals geisterhaft populären TV-Prediger Jerry Falwell und Pat Robertson entgegenstellt. Die Genderpolitik des vitalen Talking Heads-Films ist heute so brandaktuell wie damals. "We're in a race between education and catastrophe" heißt es immer wieder. Hier begegnen sich die Stränge des Programms: Die Dringlichkeit ist keine Domäne von Spannungsdramaturgie.

Verblüffend entspannt geht es hingegen in Rene Cardonas "La Mujer murcielaga" (The Batwoman, der deutsche Titel lautet unerklärlicherweise "Draculas Tochter und Professor Satanas") zu, dem das Festival auch sein unwiderstehliches Plakatmotiv verdankt. Maura Monti ist schon schmuck mit ihrer blauen Fledermauskappe (unter der sich ein pharaonenhafter Haarschopf verbirgt), ein Ausbund an feuriger 60erJahre-Coolness. Sie verkörpert eine selbstbestimmte, mondäne Heldin, die in der Verbrecherjagd Abwechslung vom Müßiggang sucht. Sie will einem Mad Scientist das Handwerk legen, der mit Hilfe der Zirbeldrüsenflüssigkeit mexikanischer Ringkämpfer einen Amphibienmenschen erschaffen will. Cardona hat es nicht eilig, die gediegen bizarre Geschichte zu erzählen. Die Ermittlungen verlaufen eingangs gemächlich, für einen Cocktail vor pittoresker Kulisse Acapulcos ist immer Zeit. Die Verfolgungsjagden brechen mitnichten Geschwindigkeitsrekorde, auch der stimmungsvollen Jazzpartitur von Leo Acosta und seiner Combo ist nicht unbedingt an Beschleunigung gelegen. Erst nach 20 Minuten ist die Tatkraft der Fledermausfrau gefragt, aber sodann beweist Monti ihr Talent fürs Multitasking, brilliert als Geheimagentin mit schießendem Schmink-Etui, als agile Ring- und Karatekämpferin sowie unerschrockene Taucherin. (Als Bikiniträgerin ist sie ohnehin im Dauereinsatz.) Cardona setzt das Ganze so in Szene, als habe sich das filmische Spannungsvokabular, mal abgesehen von den fröhlichen Zooms, seit Louis Feullades Zeiten nicht nennenswert erweitert. Aber während man noch über die munteren Volten des Drehbuchs rätselt, wächst die Lust immens, weitere Abenteuer der Fledermausfrau zu erleben. Monti zog sich jedoch bald danach aus dem Filmgeschäft zurück und machte Karriere als Fernsehjournalistin, bevor sie in den 1990ern in San Cristobal unterrichtete, einem Bollwerk der links-zapatistischen Bewegung. Wie gesagt, die Grenzen können fließend sein.

 

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