Mit großer Überzeugungskraft

Wie es sicherlich vielen Menschen in der westlichen Hemisphäre erging, hat auch mich diese Schauspielerin zunächst auf dem falschen Fuß erwischt. Schuld daran war Cole Porter. In einem seiner berühmten Listen-Songs heißt es: "If Sam Goldwyn can with great conviction / Instruct Anna Sten in diction / Then Anna shows / Anything goes." Der launige Vers war 1934 beinahe ein Karrierekiller.

In seinen Songtexten griff Porter gern auf, was in der Luft lag (erstaunlich, dass sie trotzdem nicht veralten). Die in der Ukraine geborene Schauspielerin war in der ersten Hälfte der 30er gewissermaßen der Treppenwitz Hollywoods. Goldwyn hatte sie in einem deutschen Film entdeckt, »Der Mörder Dmitiri Karamasow«, wo sie unter der Regie ihres damaligen Ehemanns Fjodor Ozep eine sehr gute Gruschenka war. Der unabhängige Produzent suchte dringend einen weiblichen Star, der so exotisch wie Garbo oder Dietrich war. Eine Schauspielerin aus der Sowjetunion hatte sich bis dahin noch keiner seiner Konkurrenten geschnappt. "A Soviet Cinderella" hieß der erste PR-Artikel, mit dem seine Neuentdeckung lanciert werden sollte. Sie besaß enorme Anmut mit ihren wohl gerundeten Gesicht, den flachsblonden Haaren und den großen, einladenden Augen. Auch ihre Stimme war anziehend: tief und kehlig. Dass sie kein Wort Englisch sprach, stellte freilich ein Problem dar, für das selbst ein mächtiger Produzent keine rasche Abhilfe fand. Die erste Lösung, ihr möglichst wenig Dialoge zu geben, verfing nicht. Stens Englischlehrerin übte rund um die Uhr mit ihr. Und Goldwyn verpflichtete einige der besten Regisseure, Dorothy Arzner, Rouben Mamoulian und King Vidor. Sie erhielt durchaus gute Kritiken, die „New York Times“ lobte ihre Vitalität, Schönheit und ihr schauspielerisches Können. Die Tolstoi-Verfilmung »We live again« wurde grandios beworben: "The directorial genius of Mamoulian, the beauty of Sten, and the producing genius of Goldwyn have combinede to make the worl's greatest enteratinment." Das war die Art von Werbung, die dem Produzenten behagte: nur Fakten, keine Übertreibungen!

Aber es half nichts, keiner ihrer Filme war ein Erfolg an den Kinokassen. Der Produzent, selbst einer der eigenwilligsten Sprachkünstler Hollywoods (siehe "Guter Rat ist billig" vom 6. 11. 2015“), musste sich nun anhören, das Ganze sei „Goldwyn's last sten“. Er löste den Vertrag mit ihr auf, worüber seine Gattin sehr glücklich war. Der sensible Schauspielerregisseur Mamoulian meinte, in der Starmaschinerie Hollywoods habe sie nie eine Chance gehabt.

Wie bemerkenswert diese Darstellerin tatsächlich war, ist derzeit im Berliner Zeughauskino zu entdecken (https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/kyjiw-berlin-hollywood). Ihre wechselvolle Karriere begann 1926 mit Boris Barnets munterer Serial-Parodie »Miss Mend«. Im Jahr darauf fand in »Der Kuss von Mary Pickford« statt, der während des epochalen Besuchs des Traumpaars Pickford-Douglas Fairbanks in der Sowjetunion entstand. Mit den Filmen aus dieser Zeit erwischte sie mich auf dem richtigen Fuß. Ich entdeckte sie als treffliche Komödiantin, zumal in Barnets »Das Mädchen mit der Hutschachtel« (Alternativtitel: »Moskau, wie es weint und lacht«, 1927), wo der Regisseur den Geist des Slapstick ins Revolutionskino schmuggelte. Barnets unbändige Entdeckerfreude, seine Lust an den Effekten, die der Kinoapparat schaffen kann, beflügelten Sten. Ein ganz unideologisches Staunen herrscht in »Das Haus in der Trubnaja-Straße« (1928), einem der schönsten Versuche, der Wahrnehmungsvielfalt des Großstadtlebens und dem Bewegungsrausch des Moderne filmische Kontur zu verleihen. In Deutschland setzte sie ihre Laufbahn an der Seite von Fritz Korner und Hans Albers eindrucksvoll fort. Mit der Trennung von Goldwyn war ihre englischsprachige Karriere keineswegs vorüber. In den frühen 1940ern beispielsweise trat sie in zwei erstaunlichen Anti-Nazi-Filmen auf, »The Man I married“ und „So Ends our Night«. Das Zeughauskino arbeitet wirklich gründlich an ihrer Rehabilitierung, inklusive eines angemessen kosmopolitischen Panels (https://www.dhm.de/zeughauskino/vorfuehrung/podiumsgespraech-anna-sten-zwischen-kyjiw-berlin-und-hollywood-13335/).

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