Die Schönheit der untergehende Sonne
Ich glaube, in diesem Jahr habe ich noch keinen Film gesehen, der so großartig fotografiert ist wie »Die Banditen von Orgosolo« - und auch keinen, dessen Montage mich derart elektrisiert hat. Dabei kam er vor 64 Jahren heraus. Vittorio de Seta hat ihn in einem Schwarzweiß und einem Normalformat gedreht, die atemraubend sind.
Er handelt von sardischen Schäfern, die die kargen Verhältnisse zu Gesetzlosen werden lässt. Eigentlich braucht er gar keinen Plot, weil die Landschaft schon dramatisch genug ist und die Gesichter der Laiendarsteller außerordentlich beredt sind. Der Hirte Michele, der wie all seine Kollegen ein schlechtes Jahr hinter sich hat, gewährt in den Bergen einigen Banditen für die Nacht ein Obdach. Als die Polizei sie entdeckt, kommt es zu einem Schusswechsel, bei dem einer der Carabinieri getötet wird. Nun werden auch Michele und sein kleiner Sohn gejagt. Mit ihren Gewehren und Maschinenpistolen erinnern die sardischen Schäfer ohnehin an Kämpfer der Resistenza; sie sind Entrechtete, die sich zur Wehr setzen. Am Ende sieht auch Michele keinen anderen Weg, als zum Verbrecher zu werden. Die Eintracht zwischen Natur und Mensch, die seit unzähligen Generationen bestand, wird brüsk zerstört. Es geht nicht gut aus für die Herde und ihren Hüter.
De Seta, der mit Industriefilmen begonnen hat, aber in dieser Disziplin nicht froh wurde, gehört gewissermaßen zur Neuen Welle des Neorealismus, die sich Anfang der 1960er formiert. Ermanno Olmi und die Taviani-Brüder zählen ebenfalls zu dieser Bewegung an, für die das Schauen auf die Wirklichkeit eine neue, zweifelnde Verbindung mit der Reflexion sozialer Bedingungen eingeht. Der große Luciano Tovoli, der in »Die Banditen von Orgosolo« das Licht setzte (ohne Vorspannnennung, während der Regisseur die Kadrierung übernahm), berichtet, dass der „erste“ Neorealismus die traditionelle Kameratechnik vom Studio auf die Straße übertrug. Hier gewinnt der Apparat eine ungekannte Agilität, die Handkamera reagiert behände (Editorin Jolanda Benvenuti ist eine Meisterin des Rhythmus) und stellt eine berückende Nähe her. Zugleich sind Im Normalformat die Totalen ungemein ertragreich, unterstreichen die Vertikalität der Berglandschaft, durch die sich die Herde ihren Weg bahnen muss, und eröffnen den tiefenscharfen Blick in die Täler. Tovolis Licht setzt starke Akzente des Hervorhebens aus dem Dunkel. „Banditen“ ist ein durch und durch mineralischer Film, dessen Kontrastreichtum in der Blu-ray-Edition von Radiance bewundernswert erhalten bleibt. Das britische Label ist ohnehin eines der erstaunlichsten, gründlichsten und cinéphilsten, die auf dem schrumpfenden Markt heroisch ausharren. Das Bonusmaterial zu »Bandits of Orgosolo« ist wiederum erhellend.
De Setas Meisterwerk läuft momentan aber auch in einem bestrickenden Filmzyklus, den Patrick Holzapfel für das Filmpodium in Zürich kuratiert hat: "Inselfilme – Lichtspiele des Mittelmeers". Seine Filmauswahl umfasst Spielfilme wie dokumentarische Arbeiten und erschließt sich den Mittelmeerraum als ein vielgestaltiges Gestade der Phantasie, der Mythen und ursprünglichen Erzähllust. Flugzeuge werden wohl nicht vorkommen in der Reihe, die ausgewiesene Klassiker wie Viscontis »Die Erde bebt« oder »Kaos« von den Tavianis nicht schmäht, aber vor allem an den Randzonen des Bekannten fündig wird. Statt »Alexis Sorbas« laufen also zwei andere Arbeiten des Griechen Michael Cacoyannis. Die Langfilme und Kurzfilmprogramme werfen ein weites Netz über dieses „Meer der Nachbarschaft“ (Predag Matvejevic), in dem auch entlegenere Schauplätze und Kinematographien in ihr Recht gesetzt werden, darunter Matvejevic' kroatische Heimat. Ein faszinierendes, spannendes Unterfangen, das eine vielstimmige Eigentümlichkeit aufscheinen lässt.
"Schließlich fühlt sich Film dort besonders wohl“", schreibt der Kurator in seiner dichten, anspielungsreichen Einführung, "wo die Zeit anderen Gesetzen gehorcht." Das gilt nicht zuletzt für die Kurzfilme von De Seta, die ein "Gerade noch" festhalten. Sie schildern Brauchtum, Folklore und Arbeitsweisen, die seit unzähligen Generationen überliefert wurden, nun aber vom Fortschritt verdrängt werden. In Zürich sind acht der zehn Arbeiten zu sehen, die im Bonusmaterial der Blu-ray unter dem Titel »The Lost World« versammelt sind, zuerst 1990 (unter Mitwirkung des Regisseur) und 2019 in Bologna restauriert, dort erstaunlicherweise mit Unterstützung der "George Lucas Family Foundation". Des Seta agiert hier fast als ein Total Filmmaker, zeichnet für die Produktion, Kameraführung und den Ton verantwortlich, wobei er einen festen Stab von Mitarbeitern hat. Der Korpus ist in den 1950ern entstanden, als sich im Süden Italiens noch Traditionen bewahrt haben, die anderswo längst erloschen sind. Er weist eine Ambivalenz von Bewahren und Sozialkritik auf. Der Arbeitsalltag von Fischern, Getreidebauern oder Grubenarbeitern ist nicht nur unvorstellbar hart; zumal in de Setas Film über eine Schwefelmine in der Mitte Siziliens ist die gnadenlose Ausbeutung von Arbeitskraft ein zentrales Thema.
Auch eine Vorstudie zu den „Banditen“ ist darunter, die sich reizvoll überschneidet mit den Befunden des Spielfilms. Allerdings hat der Regisseur schon früh die Vorzüge von Farbe und Breitwandformaten entdeckt. Das schwarzweiße Normalformat ist mithin eine bewusste Wahl, die nicht finanzieller Beschränkungen (immerhin wurde der Film von der mächtigen Titanus herausgebracht) geschuldet ist, sondern sich seinem Stilwillen verdankt. Der Korpus der meist zehnminütigen Miniaturen gehört recht eigentlich dem an, was man einst "Kulturfilm" nannte. Meist verzichtet er auf einen Erzählkommentar, nur ein didaktisch gehaltener Titel kündigt nach dem Vorspann seine Intentionen an. Allen Filmen ist eine eigentümliche Struktur gemein, die mit dem Morgen beginnt und am Abend ausklingt. Sie folgt streng dem Arbeitsalltag, spiegelt aber auch den Lebenszyklus wider. Meine Überschrift ist nur zur Hälfte richtig: die Morgendämmerung ist bei de Seta nicht weniger schön.
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