Nicht veraltet

Ob der Wettbewerb der Berlinale 1981 ein guter Jahrgang war, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Die meisten Titel sowie die Namen vieler Regisseure sind inzwischen verweht; nur wenigen war ein nachhaltiges Kinoleben bestimmt. Die berühmteren Filme liefen außer Konkurrenz oder im Forum. Allerdings gewann Carlos Saura den Goldenen Bären für „Deprisa, Deprisa“.

Nein, den kannte ich bis jetzt auch noch nicht. Nur sein deutscher Titel „Los, Tempo!“ war mir vage vertraut. In diesem Jahr läuft er in den „Berlinale Classics“, womit das Festival ein wenig Archäologie in eigener Sache betreibt, vor allem aber dem vor einem Jahr verstorbenen Spanier seine Reverenz erweist. Offenbar konnte Saura noch die Farbkorrektur der 4K-Restaurierung überwachen. Zweifellos lag ihm auch die Tonspur am Herzen, die mit Flamenco und Popmusik prunkt: Es ist ein üppiger Jukebox- und Autoradiofilm. Er bildet ein interessantes Scharnier in seiner Filmographie, denn er entstand zwischen „Mama wird 100 Jahre alt“ (mit dem ein langer Zyklus von Gesellschaftsallegorien sein vorläufiges Ende fand) und „Bluthochzeit“, dem ersten seiner eindringlichen Tanzfilme. Zugleich kehrte Saura mit „Deprisa, Deprisa“ thematisch sowie ästhetisch zu seinen Anfängen zurück, zu „Los Golfos“ (Die Straßenjungen) von 1960, dem ersten komplett an Realschauplätzen gedrehten Film in Spanien. Auch der neue Film weist Spurenelemente des Neorealismus auf und nimmt jugendliche Außenseiter in den Fokus. Er gehört zu einem Subgenre, von dessen Existenz ich ebenfalls erst jetzt erfahren habe, dem „cine quinqui“, was sich lautmalerisch nicht von ungefähr dem englischen „kinky“ annähert. Insgesamt müssen das rüde Filme über Kleinkriminelle, Polizeibrutalität und Rauschgift gewesen sein - recht eigentlich also Exploitation-Kino. Auf die üblichen expliziten Sexszenen verzichtete Saura. Besetzt wurden sie mit Laien von der Straße, die gewissermaßen sich selbst spielen und selten alt wurden (einer von Sauras Hauptdarstellern war Freigänger). Die Strömung florierte in der Periode der „transición“ nach Francos Tod, als die Zensur kraftloser wurde. Daheim avancierte „Deprisa, Deprisa“ zu einem der größten Erfolge des Regisseurs, in Deutschland wurde „Los, Tempo!“ der Verherrlichung von Gewalt und Drogenkonsum geziehen.

Dass die spanische Demokratie in dieser Zeit des Übergangs keineswegs so gefestigt war, daran erinnerte mich heute Jutta Brückner. Ich schrieb die Regisseurin an, weil sie 1981 Mitglied der Internationalen Jury war und ich erfahren wollte, wie diese zu ihrer doch sehr erstaunlichen Bären-Entscheidung gelangt war. „Ich erinnere mich nicht mehr wirklich an die Diskussionen“, antwortete sie, „sondern daran, dass es zur Zeit unserer Jurysitzungen den Überfall der spanischen Militärs auf das Parlament gab. Niemand wusste, was das für das Land bedeutete. Und es brauchte eine gewisse Zeit, bis sich die Situation klärte und der spanische Kollege erfuhr, dass seine Familie in Sicherheit war.“ Dieser Mit-Juror war der Regisseur Antonio Isasi-Isasmendi, dessen muntere „Scaramouche“-Adaption mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Gérard Barray ich durchaus schätze. Die Jury war ohnehin bemerkenswert heterogen besetzt. Ihr gehörten unter anderen der schweizerische Schriftsteller Peter Bichsel an (der sich womöglich über die quantitativ starke Präsenz des eidgenössischen Kinos im Wettbewerb freute), der kanadische Produzent Dénis Heroux („Das Mädchen am Ende der Straße“, „Atlantic City“) sowie Italo Zingarelli, der ein Vermögen an Filmen mit Bud Spencer & Terence Hill verdiente. Es herrschte eventuell also eine gewisse Offenheit in der Jury, ein Genrestück auszuzeichnen, zumal mit Saura auch der Autorenfilm-Aspekt hinreichend abgedeckt war. Ganz so unscheinbar, wie mein Auftakt suggeriert, war der Wettbewerb dann gar nicht. Der Inder Mrinal Sein, für den sich Jutta Brückner einsetzte, erhielt den Spezialpreis für „Akaler Sanhane“; die Schweiz wurde mit Silbernen Bären für das Drehbuch zu „Das Boot ist voll“ und die Schauspielerführung ausgezeichnet, ein früher Film von Agnieszka Holland wurde mit dem Preis für die Beste Hauptdarstellerin prämiert. Eine Lobende Erwähnung bekam „Zigeunerweisen“ des großen Seijun Suzuki. Laut Jutta Brückner fand die Entscheidung für „Deprisa, Deprisa“ ziemlich einvernehmlich statt; sie erinnert sich vor allem an „quälende Diskussionen um den Preis, den Jack Lemmon gewonnen hat“ - die Auszeichnung für dessen hemmungslos sentimentale Darstellung in „Tribute“ (Ein Sommer in Manhattan“) könnte tatsächlich einer der wenigen Fehlgriffe der Jury gewesen sein. Sie hatte bestimmt keine leichte Aufgabe, zumal es zur Folklore des Festivals gehört, dass ihr damaliger Leiter häufig versuchte, Einfluss auf die Bärenvergabe zu nehmen. Aber auch 1981 hielt die Jury diesem Ansinnen stand.

„Deprisa, Deprisa“ wiederum hält den mehr als vier Jahrzehnten stand, die seitdem vergangen sind. Die Kleingangsterballade veraltet nicht. Der Elan seiner jugendlichen Protagonisten überträgt sich auf den Altmeister, der hinter der Kamera stand. Dabei gibt er sich nicht ins Schlepptau ihres Ungestüms, sondern erzählt passagenweise verblüffend gelassen von ihrem kriminellen Leben. Einmal setzt die Polizei zur Verfolgungsjagd an, deren Ausgang in einer kühnen Ellipse verschwindet. Danach geht es prompt mit der Planung des nächsten Coup weiter. Bis zum Finale ist der Film horizontal, mithin in Episoden konstruiert: als Chronik einer Initiation.

Saura hebt mit der Perspektive von Pablo und Meca an, die einen SEAT stehlen wollen, der sich aber nicht einfach kurzschließen lässt. Die Eskapade gelingt dennoch, beschwingt von der lebhaft einsetzenden Musik. In einer Bar überwindet Pablo sodann seine Schüchternheit, um die schöne Kellnerin Angela anzusprechen. Sie willigt auf ein Rendezvous ein, von dem an sie unzertrennlich sind. „Werden wir immer zusammenbleiben?“ fragt sie bald, was er sofort bejaht. Man nimmt den beiden Laien ab, dass ihre Figuren das wirklich glauben. Saura hat ungeheures Glück mit seinen Darstellern und er weiß sie zu führen. Die zwei Protagonisten haben offene Gesichter; ihr Blick indes ist aufmerksam, skeptisch, dann entgegenkommend. Angela weiß noch nicht, was auf sie zukommt. Aber sie vertraut sich der gemeinsamen Zukunft an.

Er bringt ihr das Schießen bei und sie lernt atemberaubend schnell, zielsicher zu werden. Zu diesem Zeitpunkt ist alles noch ein Spiel. Beim nächsten Überfall will sie mitmachen. Sie klebt sich einen Schnurrbart an, hält cool den Wachposten in Schach, bewährt sich in der Hosenrolle. Fortan gehört sie zur Bande. Es war längst schon ihr Film. Bei späterer Gelegenheit schminkt sie sich zusätzlich einen Bartschatten: Angela entdeckt unverhoffte Seiten an sich, die ihr gefallen. Eine Romanze zwischen Entwurzelten. Agil spannt die Kamera ein Spannungsfeld zwischen Innen und Außen auf.

Während „Los Golfos“ ein Film ohne Väter war, kommt „Deprisa, Deprisa“ ganz ohne Eltern aus. Sein soziologischer Gehalt entfaltet sich en passant. Diese Rebellen erfüllen sich eminent bürgerliche Träume, von einem eigenen Auto, einer Wohnung und einem Fernseher für die Großmutter. Am Wochenende unternimmt die Bande gemeinsame Ausflüge. Angela würde gern die Küste sehen. Ein Roadmovie entspinnt sich zwischen Madrid und Almeria. Andalusien weiß ohnehin, was es dem Kino zu geben hat. Die Brandung am Cabo de Gato besiegelt die Fluidität ihres Glücks: Du wolltest ans Meer, hier ist es, nur für dich! Ein ebenso bezeichnender Abstecher führt die Truppe in die topographische Mitte der iberischen Halbinsel, an das von den Faschisten vereinnahmte Denkmal Cerro de los Ángeles unweit von Madrid. Die arglosen Touristen müssen erst erfragen, was es mit ihm auf sich hat. Auch die Polizei tritt auf den Plan, aber die Drogen sind schnell versteckt und die Papiere unverdächtig. Vorerst noch gelingt die Teilhabe am Leben in einem Spanien, das sich neu erfinden darf.

Ließe sie sich nicht auch auf andere, legale Weise erstreiten? Ganz ausgeschlossen wäre es nicht. Aber die Welt, in der sie sich bewegen, ermutigt nicht dazu. Und sie haben Vergnügen an den Affekten, der Aufregung, die ihnen ihre Lebensweise bietet. Meca zum Beispiel gefällt es, die Fluchtwagen nachher in Flammen aufgehen zu lassen. Halb sind sie noch Kinder, aber unschuldig sind sie deshalb nicht. Die Musik treibt sie an. Die Coups werden immer riskanter. Angela schießt auf einen Wachmann, der vielleicht stirbt. Leicht trägt sie nicht daran, mit Gewissensbissen hatte sie nicht gerechnet. Aber der Filmtitel ist unerbittlich, aus dem „Schneller, schneller“ entlässt er seine Charaktere nicht. Der finale Banküberfall gerät zu einem Blutbad, bei dem die Bande einen Wächter tötet und die Polizei blindlings eine Zeugin. Zuvor schworen sie, für immer Freunde zu bleiben. Damit konnte man fiebern, denn Saura rechnet seine Figuren nicht scharf aus, sondern betrachtet sie mit bekümmerter Zuneigung. Er ist eine grandiose Fehlbesetzung für das Genre: Dass er ein Kino der Ausbeutung drehen könnte, kam ihm gewiss nicht in den Sinn.

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