Welt ohne Draht

Die Dame am Schalter der Herforder Postfiliale traute ihren Ohren nicht, als ich ihr erklärte, ich wolle ein Telegramm aufgeben. "Meinen Sie das wirklich ernst?" fragte sie mit einem ratlosen, halben Lächeln. Seit sieben Jahren sei sie nun bei der Post - und noch nie habe jemand diesen Wunsch geäußert. 

Ihrer Kollegin, die sie herbei rief, war ein solches Ansinnen sogar in 31 Jahren noch nicht untergekommen. Die Post versende keine Telegramme mehr, behauptete sie kategorisch. Doch, entgegenete ich, bis morgen tut sie das noch. Ihr Tonfall wechselte von Entrüstung zu Verärgerung: als sei es eine Unverschämtheit meinerseits, auf dieser Dienstleistung zu beharren. In den 31 Jahren muss sie sich eine beachtliche Hartleibigkeit erworben haben. Um keinen Preis wäre sie bereit gewesen, in einer Schublade nach einem Formular zu suchen, das es vielleicht nicht mehr gab. Bizarrerweise behauptete sie mehrfach, sie seien eigentlich gar nicht die Post. Mir war nicht zweifelsfrei klar, ob ich es dabei nur mit einem Fall ostwestfälischer Sturheit zu tun hatte oder einer tiefsitzenden Identitätskrise. Vielleicht entfremdet man sich ja von seinen Aufgaben, wenn man kein Amt mehr ist, sondern nur noch ein schnöder Shop.

Sie schickte mich mit dem Hinweis hinaus, ich solle bei der Deutschen Post nachfragen. Damit meinte sie: im Internet. Da gab es die Möglichkeit tatsächlich noch. Meinen Abschied vom Telegramm konnte ich also angemessen begehen. Nach fast 180 Jahren stellt die Post diese hochgradig obsolete Dienstleistung ein; im internationalen Vergleich ist sie damit sogar ein Spätlicht. Ich muss gestehen, dass ich in meinem Leben wenig Verwendung für sie fand. Bis gestern werde ich nicht mehr als eine Handvoll verschickt haben. Das erste sandte ich in meiner Schulzeit an eine Klassenkameradin, deren Eltern noch keinen Telefonanschluss besaßen. Meine Nachricht lautete deshalb schlicht und paradox: "Ruf' an". (Da die Telegrammgebühren damals nach Anzahl der Worte erhoben wurden, hatte ich das "bitte" in der Mitte streichen lassen.) Als Erwachsener verschickte ich gelegentlich zu Geburtstagen und anderen Anlässen Telegramme mit Schmuckblatt. Ganz unüblich war das nicht. Mein Freund Heiko erinnerte sich, dass er und seine Braut zu ihrer Hochzeit einige Glückwünsche in dieser Form erhalten hatten. Ein Telegramm zu erhalten, war also mithin nur selten, sondern ein Privileg. Es war anachronistisch, aber auch exotisch. Verschicken, Zustellung und Empfangen besaßen einen persönlichen Charakter. Es gebrach ihm an Notwendigkeit, weshalb ihm ein Flair von Romantik innewohnte.

Das Selbstverständnis von Hollywood sähe ohne Telegramme bestimmt anders aus. Ich erinnere nur an die Losung "I make pictures. If I want to send a message, I'll take Western Union.", die wahlweise Sam Goldwyn, Humphrey Bogart oder einem der Warner Bothers zugeschrieben wird. Ebenso folgenreich war das Kabel, das der Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz Ende der 20er aus der Filmmetropole an Ben Hecht schickte: "There's millions to be made here, and the only competition is idiots." Auch hier gibt es, den Adressaten betreffend, mehrere Versionen. Die IMDb führt unter dem Stichwort geschlagene 861 Filme und TV-Episoden auf. Eine imposante Anzahl, auch wenn es sich in vielen Fällen wohl nur um das banale Ankunftstelegramm handeln wird. Nein, hier muss schon mehr auf dem Spiel stehen: Das Entscheidende beim Telegramm im Film ist seine Dringlichkeit.

Eine Stegreifrecherche ergab, dass der Auflistung nur halbwegs zu trauen ist. Telegramme tauchen beispielsweise weder in »Mr. Deeds geht in die Stadt«, »Wiegenlied für eine Leiche« noch »Heißes Eisen« auf (dort allerdings gibt es ein Telex im Polizeirevier), und jede Menge einschlägiger Titel fehlt. Dennoch lässt die Liste eine ganze Reihe von Aufschlüssen zu. Das Motiv ist wesentlich an historische Epochen geknüpft, in denen es an technischen Alternativen mangelt (obgleich noch ein Halbdutzend Filme aus diesem Jahrhundert das Telegramm im Titel führen) sowie an bestimmte Formen der Mobilität, deren Nutzer nur so erreichbar sind (im Zug, auf dem Schiff). Hier eine kleine tour d'horizon.

Die Screwball Comedy muss eine Hochzeit der telegraphischen Kommunikation gewesen sein; auch bei den Marx Brothers spielt sie regelmäßig eine Rolle (was in beiden Fällen zum Tempo passt). Es gibt sie eher bei Chaplin als bei Keaton. Detektive wie Sherlock Holmes und Hercule Poirot erhalten oder erwarten häufig Telegramme, die für die Ermittlungen des Belgiers indes von zentralerer Bedeutung sind. In Hotelfilmen (zumal bei Wes Anderso.) nimmt der Portier sie treuhänderisch entgegen; in Melos verbinden sich damit Schicksalsschäge (in „Big Fish“ von Tim Burton erhält die Ehefrau eine zum Glück nur irrtümliche Todesmeldung). Hitchcock und Raul Ruiz bieten sich in dieser Hinsicht als reizvolle Forschungsgebiete an (der Erste wegen des hohen Aufkommens, der Zweite, weil er ohnehin immer mysteriös ist). Erstaunlich kurz kommt auf der IMDb-Liste der interkontinentale Versand von Nachrichten; diverse Adaptionen von »In 80 Tagen um die Welt« und »Die versunkene Stadt Z« (James Gray ist auch mit »The Immigrant« vertreten) bilden hier ruhmreiche Ausnahmen. Den Sonderfall des singenden Telegrams konnte ich auf Anhieb in der Liste nicht ausmachen. Die vage Erinnerung einer Freundin jedoch, bei Heinz Ehrhardt käme irgendwann ein Telegramm vor, konnte die Datenbank tatsächlich bestätigen: Es muss sich um "Drillinge an Bord" handeln.

Als ich Heiko für ein Brainstorming einspannte, fielen ihm zunächst vorrangig Western ein. Die Schurken in »High Noon« warten am Bahnhof, der in diesem Genre fast ausnahmslos mit der Telegraphenstation identisch ist, auf die Ankunft von Frank Miller. Der Prolog von »Spiel mir das Lied vom Tod« variiert die Sitution, als sich Jack Elam von Ticken des Telegraphen bei seinem Nickerchen gestört fühlt und er es rüde beendet – der kapitale Fall eines Telegramms, das sein Ziel nie erreichen wird. Das gilt bedauerlicherweise auch für den Hilferuf, den Spencer Tracy in »Stadt in Angst« an die Polizei von Los Angeles absetzen will (zugegeben, kein waschechter, sondern moderner Western, aber in dem Flecken Black Rock ist die Zeit stehen geblieben). Regisseur John Sturges festigt seinen Ehrenplatz in dieser Motivgeschichte zudem mit »Die fünf Geächteten«, wo James Garner als Wyatt Earp im Zug die Bestätigung seiner Ernennung zum Bundesmarshall erreicht. Die Szene ist rasant. Das Fernschreiben muss in voller Fahhrt übergeben werden, wozu es der Vorsteher eines Durchangsbahnhofs es an einem Stab mit Metallschlaufe befestigt hat, von dem es der erfahrene Schaffner gekonnt herunterreißt. Ein Freund erinnerte mich an den umgekehrten Fall: In dem Eisenbahnwestern "Nevada Pass" mit Charles Bronson wird die parallel zum Schienenstrang verlaufende Telegraphenlinie angezapft, um eine Nachricht zu verschicken. 

In dem Zug, der die Teilnehmer des Pferderennens in "700 Meilen westwärts" zum Start bringt, werden mehrere Telegramme zu gestellt, in denen ihnen Glück gewünscht wird. Unter den Absendern befinden sich Buffalo Bill, der Prince of Wales und Theodore Roosevelt, der mit seinen ehemaligen Rough Riders fiebert, die Gene Hackman und James Coburn spielen. Der Präsident greift im Kino ohnehin gern auf Fernschreiben zurück, beispielsweise in »Der Wind und der Löwe«, wo er veranlasst, per "cablegram" in Marokko zu erfragen, was für ein Gewehr der Berberfürst Raisuli benutzt.

»Western Union« (Überfall der Ogalalla), der interessanteste der drei Western, die Fritz Lang gedreht hat, handelt von der Entstehung der transatlantischen Telegraphenlinie. Die Hinterwäldler, denen der leitende Ingenieur der Firma eingangs in Nebraska begegnet, ist das Vorhaben ein wenig zu abstrakt. "Kann man auch Felle damit verschicken?" will einer von ihnen wissen. "Nein, nur Worte." (Inzwischen verschickt Western Union nur noch Geldanweisungen, wofür Sam Goldwyn gewiss Verständnis hätte). Nach Ausbruch des Bürgerkrieges gewinnt der Bau der Linie an staats- (oder zumindest doch unions-) tragender Bedeutung, wie Präsident Lincoln betont. Die Telegraphen ticken Tag und Nacht. Nicht nur Indianerüberfälle, auch die Sabotageakte versprengter Südstaatler gefährden die Unternehmug. Erstere fürchten "the singing wire", Zweitere hassen "this yankee wire." Fritz Lang ist überhaupt ein Spezialisr für das begrohte Telegramm. In »Spione« verlangt Willy Fritsch in einem Postamt ein Formular, um das Ministerium vom Stand der Ermittllungen gegen die Titel stiftende Bande zu informieren. Ein raffininierte Schurke, der ihn belauscht hat, fädelt es so ein, dass er den Text an einem Pult schreibt, in dem Pauspapier versteckt ist. So kann er die Botschaft per Funkspruch gleich an den Meisterverbrecher Haghi weiterleiten.

Bei Frank Capra schließlich gewinnt das Telegramm enormes Pathos. In »Ist das Leben nicht schön?« entdeckt der junge George Bailey, weshalb der freundliche Drogist von Bedford Falls so niedergeschlagen ist: Er hat die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhalten, betrinkt sich und mischt versehentlich ein giftiges Medikament. George überbringt es nicht, weist den verzweifelten Mann auf seinen Irrtum hin. Bei ihrer Versöhnung bleibt kein Auge trocken, ebenso wenig wie am Ende von »Mr. Smith geht nach Washington«, als James Stewart seine Filibuster-Rede im Senat hält und im schwärzesten Augenblick von seinen Widersachern Körben mit Telegramme in den Saal gekarrt werden. Sie sind allesamt fingiert, um den aufrechten Senator zu diskretieren. 50000 sind es, eine erdrückende Last der Lügen. Bestimmt mehr, als die Deutsche Post in den letzten Jahren verschickt hat. Stewart erinnert seinen ärgsten Kontrahenten daran, dass es sich nur lohnt, für eine verlorene Sache zu kämpfen. Da wendet sich endlich das Blatt. Ein Happy-End für die US-Demokratie. Und hoffentlich auch eins für dieses Jahr im Blog.

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